Kommentierte Spiele
Große Partien ... (XXXV): Marshall-Bogoljubov 1924
Vabanque - 28. Jul '14
Wer die Glanzpartien und insbesondere die Schönheitspreise der ersten Jahrzehnte des 20. Jh. durchsieht, wird dabei mit überdurchschnittlicher Häufigkeit auf den Namen Frank Marshall (1877-1944) stoßen. Marshall hat Siege gegen alle großen Spieler seiner Zeit zu verzeichnen, und erreichte mit ziemlicher Regelmäßigkeit Spitzenplätze in stark besetzten Turnieren. Er war jedoch kein erfolgreicher Matchspieler; in einem WM-Kampf gegen Lasker unterlag er mit niederschmetterndem Ergebnis.
Marshalls Leben war von einer unaufhörlichen und mitreißenden Liebe zum Schach geprägt. Es heißt, dass er sogar neben seinem Bett immer ein Schachspiel stehen hatte. Der amerikanische GM Reuben Fine, der später selbst zur Weltspitze aufsteigen sollte, berichtet, dass er als ganz junger Spieler in den Marshall Chess Club eingetreten war und dort gerade eine Partie in der Jugendmeisterschaft beendet hatte, welche er mit seinem Gegner analysierte. Plötzlich gesellte sich ein würdiger älterer Herr an den Tisch und zeigte den beiden Jugendlichen in der Analyse Züge, an die sie nicht einmal im Traum gedacht hätten. Der ältere Herr war natürlich niemand anders als Marshall selbst! Für Marshall spielte es keine Rolle, mit wem er Schach spielte oder analysierte; ihm ging es um die Schönheit und Raffinesse der Spielzüge.
Um die Feinheiten des Positionsspiels kümmerte er sich wenig; er suchte in allen Stellungen nach verborgenen Chancen und Kniffen. Das macht seine Partien aber beim Nachspielen so unterhaltsam; es ist immer 'etwas los'. Einfache Stellungen
versuchte er nach Möglichkeit zu komplizieren, bis das Brett in Flammen stand. Gleichzeitig war er aber auch ein guter Endspieler; er hielt einmal ein Turmendspiel mit 3 Minusbauern remis!
In all dem kann Marshall nahezu als Vorläufer von heutigen Spielern wie Aronian und Shirov angesehen werden, deren Stil ähnliche Eigenschaften aufweist, und die trotz herausragender Turniererfolge auch nie die allerhöchsten Weihen erreichen.
Für nachfolgende Partie erhielt Marshall seinerzeit den 2. Schönheitspreis des Turniers, was seine Anhänger allerdings wütend machte, da sie der Meinung waren, die Partie habe doch auf alle Fälle den 1. Schönheitspreis verdient (dieser ging übrigens an die Partie Réti-Bogoljubov). Wie dem auch sei, es handelt sich um eine sehr ästhetische Partie, die Marshalls Stärken im hellsten Licht zeigt. Auch in bereits gewonnener Stellung, wo viele Wege nach Rom führen, wählt er nicht die einfachste und sicherste, sondern die glänzendste Methode. Leidtragender ist wieder einmal der unglückliche Bogoljubov,
der in dieser Serie nun schon die 4. Verlustpartie einstecken muss. Die nächste Folge ist dann aber der lange überfälligen Rehabilitation Bogos gewidmet ;)































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Marshalls Leben war von einer unaufhörlichen und mitreißenden Liebe zum Schach geprägt. Es heißt, dass er sogar neben seinem Bett immer ein Schachspiel stehen hatte. Der amerikanische GM Reuben Fine, der später selbst zur Weltspitze aufsteigen sollte, berichtet, dass er als ganz junger Spieler in den Marshall Chess Club eingetreten war und dort gerade eine Partie in der Jugendmeisterschaft beendet hatte, welche er mit seinem Gegner analysierte. Plötzlich gesellte sich ein würdiger älterer Herr an den Tisch und zeigte den beiden Jugendlichen in der Analyse Züge, an die sie nicht einmal im Traum gedacht hätten. Der ältere Herr war natürlich niemand anders als Marshall selbst! Für Marshall spielte es keine Rolle, mit wem er Schach spielte oder analysierte; ihm ging es um die Schönheit und Raffinesse der Spielzüge.
Um die Feinheiten des Positionsspiels kümmerte er sich wenig; er suchte in allen Stellungen nach verborgenen Chancen und Kniffen. Das macht seine Partien aber beim Nachspielen so unterhaltsam; es ist immer 'etwas los'. Einfache Stellungen
versuchte er nach Möglichkeit zu komplizieren, bis das Brett in Flammen stand. Gleichzeitig war er aber auch ein guter Endspieler; er hielt einmal ein Turmendspiel mit 3 Minusbauern remis!
In all dem kann Marshall nahezu als Vorläufer von heutigen Spielern wie Aronian und Shirov angesehen werden, deren Stil ähnliche Eigenschaften aufweist, und die trotz herausragender Turniererfolge auch nie die allerhöchsten Weihen erreichen.
Für nachfolgende Partie erhielt Marshall seinerzeit den 2. Schönheitspreis des Turniers, was seine Anhänger allerdings wütend machte, da sie der Meinung waren, die Partie habe doch auf alle Fälle den 1. Schönheitspreis verdient (dieser ging übrigens an die Partie Réti-Bogoljubov). Wie dem auch sei, es handelt sich um eine sehr ästhetische Partie, die Marshalls Stärken im hellsten Licht zeigt. Auch in bereits gewonnener Stellung, wo viele Wege nach Rom führen, wählt er nicht die einfachste und sicherste, sondern die glänzendste Methode. Leidtragender ist wieder einmal der unglückliche Bogoljubov,
der in dieser Serie nun schon die 4. Verlustpartie einstecken muss. Die nächste Folge ist dann aber der lange überfälligen Rehabilitation Bogos gewidmet ;)
Frank James Marshall Efim Bogoljubov New York | New York, NY USA | 18 | 1924.04.10 | 1:0
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1. d4 Sf6 2. Sf3 e6 3. Lg5 d5 4. e3 Sbd7 5. c4 c6 6. xd5 xd5 7. Sc3 Da5 8. Ld3 Wollte sich Weiß das Läuferpaar erhalten, müsste er 8.Sd2 spielen: Se4 9. Sdxe4 dxe4 (nun bedroht die Da5 den Lg5) 10. Lh4. Marshall 'opfert' das Läuferpaar und spielt auf rasche Entwicklung. Se4 9. Dc2 Sxg5 10. Sxg5 h6 11. Sf3 Le7 Auf d6 stand der Läufer aktiver. Er hätte dort auch ein späteres Se5 von Weiß erschwert. 12. O-O O-O 13. a3 Belästigt die schwarze Dame mit der Absicht b2-b4-(b5). Dd8 Ein besseres Feld hat sie nicht; auf Dc7?? würde sofort Sxd5! folgen. 14. Tae1 a5 15. De2 Dieser etwas seltsam aussehende Zug droht e3-e4, da nach dxe4 dann die Dame auf e4 wiedernehmen könnte, wo sie zugleich Matt auf h7 drohen und den Läufer e7 angreifen würde. Sf6 16. Se5 Ld6 17. f4 c5 Jetzt wo Weiß seine Truppen am Königsflügel versammelt hat, muss Schwarz irgendeine Art Gegenspiel einzuleiten versuchen. 18. Lb1 Die übliche Methode, eine Läufer-Dame-Batterie aufzubauen, wobei die Dame immer vor dem Läufer in die gegnerische Königsstellung eindringen muss, weil der Läufer meist nur ein harmloses Schach geben könnte. Bei der Dame-Turm-Batterie wäre es übrigens umgekehrt: da ist es meist empfehlenswert, mit dem Turm vor der Dame in die gegnerische Königsstellung einzudringen. Ld7 19. Dc2 Nun wo die Batterie fertig ist, droht auch schon Sxd5! Lc6 Wie sich gleich zeigen wird, war Le6 wohl die bessere Alternative, d5 zu decken. Mit dem Textzug beabsichtigt Schwarz vermutlich, auf d4 und dann auf e5 zu tauschen, um hinterher seinen Springer auf e4 platzieren zu können, wo der die Diagonale b1-h7 verstopft. Dagegen richtet sich das folgende Manöver von Weiß. 20. xc5 Lxc5 21. Kh1 Te8 22. e4! 'The most profound move of the game' (Reuben Fine). Spielt Schwarz jetzt 22... dxe4, so folgt 23. Sxc6 bxc6 24. Sxe4 (nun droht Sxf6+ nebst Dh7#, und zugleich hängt der Lc5) Sxe4 25. Txe4 Txe4 (auch hier hat Schwarz keine Alternative) 26. Dxe4, und in der entstandenen Stellung gewähren die ungleichfarbigen Läufer Schwarz kein Remis, sondern sorgen für entscheidenden Angriff für Weiß, weil der schwarze Läufer keinen Beitrag zur Verteidigung leisten kann. Trotzdem war dies noch die beste Chance für Schwarz. In der Partie kommt es schlimmer für ihn - und schöner für den Nachspielenden! Ld4 Auch auf d4 kann Weiß mit Sxc6 nebst e5 durchbrechen. 23. Sxc6 xc6 24. e5 Sg4 Käme Schwarz nun zu Dh4, so hätte er selbst entscheidenden Angriff. 25. Dh7+ Wichtig ist es, vor dem nächsten weißen Verteidigungszug schon einzudringen; andernfalls spielt Schwarz g6. Kf8 26. g3 Db6 Ein verzweifelter Ausfall. Freilich, wenn Schwarz zu Dxb2 käme, würden c3 und h2 (mit Matt!) hängen. 27. Lf5! Greift nicht nur den Sg4 an, sondern trägt auch zur späteren Knüpfung des Mattnetzes bei, wie man bald sehen wird. Lässt sich Schwarz jetzt auf Dxb2 28. Lxg4 Dxc3 (auf Lxc3 folgt 29. Tb1 nebst Tb7) ein, so hat er dem weißen Angriff nach 29. f5! Lxe5 (wenn das nicht geht, geht gar nichts mehr, da f6 droht) 30. f6! nichts mehr entgegenzusetzen (gxf6 31. Dh8+ Ke7 32. Dxf6+ (Fesselung!) Kf8 33. Dxf7#). Sf2+ 28. Txf2! Auch Kg2 reichte aus; der Textzug entspricht aber mehr dem Temperament Marshalls. Er hat gesehen, dass er gleich auch noch den Turm e1 einstehen lassen kann, und lässt sich natürlich so eine Opfergelegenheit nicht entgehen. Lxf2 29. Dh8+ Ke7 30. Dxg7 Jetzt kann Schwarz nicht auf e1 zugreifen, denn dann käme die lehrreiche Mattwendung (30. Lxe1) 31. Df6+ Kf8 (man sieht jetzt, wie der Lf5 am Mattnetz mitwirkt) 32. Dxh6+ Kg8 (auf die Rückkehr nach e7 folgt nämlich das schöne Matt Dd6#!) 33. Lh7+ mit Matt in 3 weiteren Zügen durch Lg6+, Dh7+ und Dxf7#. All dies hat Marshall schon bei 27. Lf5! gesehen. Kd8 Der König versucht noch eine Flucht zum Damenflügel. 31. Df6+ Te7 32. e6! Und immer noch kann Marshall den Te1 einstehen lassen! Nach 32... Lxe1 33. exf7 würde sich der weiße Bauer verwandeln. Auf 32... fxe6 spielt Weiß natürlich einfach Txe6, und wenn Schwarz dann e7 deckt, kommt Df8+. Und 32... Dd4 hilft nichts wegen Te5. Ld4 Aber diesen Gegenangriff musste Weiß bei seinem letzten Zug ebenfalls berücksichtigen. 33. xf7! Er kann die Dame hängen lassen! Und er muss es auch, denn nach 33. Dh4 f6 hätte sich Schwarz gesichert. Lxf6 34. f8=Q+ Kc7 35. Txe7+ Lxe7 36. Dxa8 Nun kann sich Schwarz nicht einmal auf b2 bedienen, da er durch Damenschachs in eine Springergabel gezwungen wird: 36... Dxb2 37. Dc8+ Kd6 (bei Kb6 Sa4+ ist die Springergabel schon da) 38. Dd7+ Kc5 39. Sa4+. Aber dieses Manöver (Dc8+, Dd7+, Sa4+) droht auch mit der schwarzen Dame auf b6. Sollte es nun Schwarz einfallen, mit 36... Df2 ein Matt auf f1 zu drohen, so erobert Weiß die Dame mittels 37. Dc8+, 38. Db8+ und 39. Da7+. Kd6 Daher erneute Flucht. 37. Dh8! Droht De5+ nebst Sa4+. Mit einer Figur weniger könnte Schwarz nun guten Gewissens aufgeben, denn Dxb2 und Df2 verlieren wieder die Dame. Dd8 Eigentlich komplett sinnlos, denn Weiß könnte jetzt in ein leicht gewonnenes Endspiel abtauschen. Aber Marshall sagte mit seinem nächsten Zug Matt in 5 Zügen an: 38. De5+ Bogoljubov glaubte ihm das, und ließ sich den hübschen Schluss nicht mehr zeigen. Aber wir zeigen ihn hier wenigstens dem Publikum: Kc5 39. Sa4+ Kc4 Kb5 40. De2+ Kxa4 41. Lc2# geht noch schneller. 40. Dc3+ Kb5 41. Ld3+ Kxa4 42. Dc2# Eine tolle Königsjagd von g8 nach a4 mit vielen fast studienartigen Pointen.
KroMax - 28. Jul '14
Danke Vabanque !
Einfach klasse wie du das hier machst und ...das du es überhaupt machst.
Gruß
Einfach klasse wie du das hier machst und ...das du es überhaupt machst.
Gruß
Vabanque - 28. Jul '14
Danke auch für die nette Reaktion!
Die Beiträge zu erstellen, ist natürlich viel 'Arbeit', die aber gleichzeitig gar keine Arbeit ist, weil sie vor allem sehr viel Spaß macht. Ich wähle ja nur Partien aus, wo es mich selber total begeistert, Kommentare zu schreiben.
Aber schön ist es immer, wenn Feedback kommt!
Die Beiträge zu erstellen, ist natürlich viel 'Arbeit', die aber gleichzeitig gar keine Arbeit ist, weil sie vor allem sehr viel Spaß macht. Ich wähle ja nur Partien aus, wo es mich selber total begeistert, Kommentare zu schreiben.
Aber schön ist es immer, wenn Feedback kommt!
cutter - 28. Jul '14
Eigentlich sind die Partien aus der Ära Capablanca, Marshall und dem frühen Fischer unterhaltsamer als die heutigen.
Natürlich ist heute vieles perfekter und korrekter und ein Sieg deshalb oft brillanter, weil das Schachwissen fortgeschritten ist. Aber die alten Meister hatten unverkennbar Lust am Kombinieren und wenn es geklappt hat, gab es ein tolles Spiel, das die Jahrhunderte überdauern kann...
Danke für deine ästhetische Serie.
Cutter
Natürlich ist heute vieles perfekter und korrekter und ein Sieg deshalb oft brillanter, weil das Schachwissen fortgeschritten ist. Aber die alten Meister hatten unverkennbar Lust am Kombinieren und wenn es geklappt hat, gab es ein tolles Spiel, das die Jahrhunderte überdauern kann...
Danke für deine ästhetische Serie.
Cutter
Vabanque - 28. Jul '14
Das stimmt schon. Etwa seit den 70er Jahren wurden die Partien der Spitzenspieler weniger unterhaltsam (zumindest für den gewöhnlichen nachspielenden Schachfreund). Natürlich gab es immer auch Ausnahmen, und die gibt es heute noch. Meistens sind es die frühen Partien von viel versprechenden Newcomern, die plötzlich wieder wie eine frische Brise wehen. Man denke an die ersten Partien, mit denen Morozevich, Shirov, Aronian und Karjakin Aufmerksamkeit erregten. Heute spielen selbst diese Leute einen solideren, nicht mehr so spektakulären Stil, obwohl man sie immer noch nicht als Positionsspieler apostrophieren könnte. Weltmeister kann man aber wohl nur mit starkem Positionsspiel werden. Auch Aljechin und Kasparov, vom schachlichen Typus her 'wilde Männer', mussten erstmal das Positionsspiel gründlich erlernen, um den Thron zu erklimmen. Mit dem Ergebnis, dass Aljechin Capablanca und Kasparov Karpov jeweils mit deren eigenen Waffen schlugen. Das war dann sehr befriedigend, aber fürs generelle Schachpublikum größtenteils nicht so unterhaltsam (wenn man von einigen wenigen Partien, in denen dennoch die Fetzen flogen, mal absieht).
patzer0815 - 28. Jul '14
Diese Partie gefällt mir sehr gut, auch wenn ich eine durchaus gediegene postitionelle Verwertung eines Vorteils auch zu schätzen weiß.
Bist Du Dir eigentlich sicher mit Aronian? Vom Stil her sehe ich da nämlich keine grundsätzlichen Probleme was den WM-Thron angeht. Mein Eindruck ist eher, dass er mental in den entscheidenden Momentan falsch eingestellt ist.
Bist Du Dir eigentlich sicher mit Aronian? Vom Stil her sehe ich da nämlich keine grundsätzlichen Probleme was den WM-Thron angeht. Mein Eindruck ist eher, dass er mental in den entscheidenden Momentan falsch eingestellt ist.
Vabanque - 28. Jul '14
Nach seiner eigenen Aussage ist Aronian 'nur ein billiger Taktiker', aber das ist sicher auch Selbstironie, Unterstatement oder 'fishing for compliments'.
Sicherlich kann Aronian mittlerweile auch gediegen positionell spielen. Aber von seinen früheren Partien her wirkt er schon ziemlich wie ein Haudegen. Es ist immer alles recht unübersichtlich und es geht hoch her ... und am Ende zieht er dann so einen Kniff (oder gleich mehrere) aus dem Hut. Ich bringe vielleicht mal ein paar Beispiele hier.
Sicherlich kann Aronian mittlerweile auch gediegen positionell spielen. Aber von seinen früheren Partien her wirkt er schon ziemlich wie ein Haudegen. Es ist immer alles recht unübersichtlich und es geht hoch her ... und am Ende zieht er dann so einen Kniff (oder gleich mehrere) aus dem Hut. Ich bringe vielleicht mal ein paar Beispiele hier.