Kommentierte Spiele

Spektakuläre Spielzüge (II): Anand - Kempinski 2010

Vabanque - 30. Mär '16
Diese Partie, die Anand in der Bundesliga-Saison 2009/10 gegen den polnischen GM Kempinski spielte, zeigt in frappierender Weise die Ausnutzung einer schwachen Grundreihe (hervorgerufen durch die fehlende Verbindung der Türme) auf. Anands Zug 24. Lg6!! erinnert an den berühmten Schlusszug 25. Le8!! der Partie Réti - Bogoljubow aus dem New Yorker Turnier 1924 und reiht damit die Partie in die Sammlung der klassischen Meisterwerke ein.


Viswanathan Anand Robert Kempinski 2009-2010 Bundesliga | Heidelberg GER | 11 | 2010.02.28 | B84 | 1:0
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
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1. e4 c5 2. Sf3 d6 3. d4 xd4 4. Sxd4 Sf6 5. Sc3 a6 6. Le2 e6 7. O-O Le7 8. a4 Verhindert b7-b5, was man aber auch zulassen kann. Sc6 9. Le3 O-O 10. f4 Dc7 11. Kh1 In solchen Stellungen ist es häufig angebracht und üblich, den König prophylaktisch aus der Diagonalen b6-g1 zu entfernen, um unangenehme Schachs oder Fesselungen von vornherein auszuschalten. Te8 Das ist zwar immer noch ein Theoriezug, aber Schwarz wird ihn trotzdem bald bereut haben, da er das Feld f7 schwächt. 12. Lf3 Sd7 Das ist aber nun schon etwas seltsam. Konsequent war Lf8 (was im nächsten Zug ja auch erfolgt oder Tb8, um den Turm aus der Diagonalen des Lf3 zu entfernen (was im übernächsten Zug geschehen wird. 13. De1 Dieses Manöver, um die Dame zum Königsflügel zu befördern, ist in diesem Stellungstyp auch schon lange bekannt. Lf8 14. Df2 Auch Dg3 käme in Frage. Tb8 15. Tad1 Sxd4 16. Lxd4 b6 Schwarz nimmt nun eine Igel-Formation ein. Aber logischer erscheint hier eigentlich das aktivere b5. Zu der geplanten Läuferentwicklung nach b7 kommt es übrigens nicht mehr, und darauf gründet sich auch der überfallartige Sieg, den Weiß jetzt gleich davontragen wird. 17. e5! Weiß wird im Zentrum aktiv. Dieses scheinbare Bauernopfer darf gar nicht angenommen werden. xe5 Dem Weißen die f-Linie zu öffnen (noch dazu wo hier schon zwei weiße Schwerfiguren lauern, und der Punkt f7 bei Schwarz nur vom König verteidigt ist), erscheint doch arg riskant. Allerdings weiß man aus vielen ähnlichen Partien, dass die Abschließung der Mitte mit d6-d5 dem Weißen erst recht freie Hand für Manöver am K-Flügel gibt. 18. xe5 Lc5
Gar nicht in Frage kommt Sxe5 19. Lh5! , und der Drohung Lxe5 nebst Einschlag auf f7 ist nicht gut zu begegnen, z.B. Sg6 20. Lxg6 xg6 21. Le5! Dxe5 22. Dxf7+
19. Lh5 Auch jetzt ist f7 nicht zu decken. Tf8 20. Lxf7+ Vielleicht dachte Schwarz, dass es nicht günstig für Weiß wäre, in die Fesselung hineinzuschlagen, aber da täuscht er sich. Kh8 21. Se4 Sxe5?
Ein direkter Fehler in schwieriger Lage. Immerhin verliert der Zug sehr schön. Schwarz musste zuvor auf d4 tauschen, bevor er seinen Bauern auf e5 wiedergewinnen konnte: Lxd4 22. Txd4 Allerdings ist die schwarze Stellung weder nach Dxe5 23. Sd6 noch nach Sxe5 23. Sg5 beneidenswert (obwohl das Spiel jeweils sehr kompliziert geblieben wäre).
22. Sxc5! Nun jedoch läuft alles wie am Schnürchen. Es würde mich nicht wundern, wenn Anand hier schon alles bis zum Schluss berechnet hätte. xc5
Die Variante Sxf7
Txf7 23. Lxe5
23. Le5! Dxe5 24. Dxf7! Tg8 25. Dxg8! Kxg8 26. Td8# ist auch recht hübsch.
23. Lxe5 Dxe5 24. Lg6!! Eine sehr schöne Ausnutzung der Grundreihenschwäche von Schwarz (wie auch schon in der zum 22. Zug von Schwarz gegebenen Variante), die ihre Ursache in der fehlenden Verbindung der Türme hat (weil der Lc8 nicht entwickelt ist). Auf Txf2 folgt Grundreihenmatt durch Td8. Aber jetzt steht der Tf8 mit Matt ein. Tg8 25. Lxh7! Es geht im gleichen flotten Stil weiter. Kxh7 26. Dh4+ Kg6 27. Td3 Jetzt ist der schwarze König im Kreuzfeuer der feindlichen Schwerfiguren gefangen. Wie soll Schwarz der Drohung Tg3+ noch begegnen? Dh5 Die Lady wirft sich noch schützend vor ihren Herrn Gemahl. Aber man weiß ja auch aus diversen Krimis, dass diese Vorgehensweise nicht immer fruchtet. 28. Tg3+ Und nun muss Schwarz erkennen, dass nach Kh6 29. Df4+ der Tb8 einsteht - schon wieder 'dank' der fehlenden Verbindung der Türme! Er gab daher hier auf. Eine ebenso brillante wie lehrreiche Partie!
PGN anzeigen[Event "2009-2010 Bundesliga"]
[Site "Heidelberg GER"]
[Date

"2010.02.28"]
[EventDate "2009.10.17"]
[Round "11"]
[Result "1-0"]
[White

"Viswanathan Anand"]
[Black "Robert Kempinski"]
[ECO "B84"]
[WhiteElo

"2788"]
[BlackElo "2616"]
[PlyCount "55"]

1. e4 c5 2. Nf3 d6 3. d4 cxd4 4.

Nxd4 Nf6 5. Nc3 a6 6. Be2 e6
7. O-O Be7 8. a4 {Verhindert b7-b5, was man

aber auch zulassen kann.} Nc6 9. Be3 O-O 10. f4 Qc7 11. Kh1 {In solchen

Stellungen ist es häufig angebracht und üblich, den König prophylaktisch

aus der Diagonalen b6-g1 zu entfernen, um unangenehme Schachs oder

Fesselungen von vornherein auszuschalten.} Re8 {Das ist zwar immer noch

ein Theoriezug, aber Schwarz wird ihn trotzdem bald bereut haben, da er

das Feld f7 schwächt.} 12. Bf3
Nd7 {Das ist aber nun schon etwas seltsam.

Konsequent war Lf8 (was im nächsten Zug ja auch erfolgt oder Tb8, um den

Turm aus der Diagonalen des Lf3 zu entfernen (was im übernächsten Zug

geschehen wird.} 13. Qe1 {Dieses Manöver, um die Dame zum Königsflügel zu

befördern, ist in diesem Stellungstyp auch schon lange bekannt.} Bf8 14.

Qf2 {Auch Dg3 käme in Frage.} Rb8 15. Rad1 Nxd4 16. Bxd4 b6 {Schwarz nimmt

nun eine Igel-Formation ein. Aber logischer erscheint hier eigentlich das

aktivere b5. Zu der geplanten Läuferentwicklung nach b7 kommt es übrigens

nicht mehr, und darauf gründet sich auch der überfallartige Sieg, den Weiß

jetzt gleich davontragen wird.} 17. e5! {Weiß wird im Zentrum aktiv.

Dieses scheinbare Bauernopfer darf gar nicht angenommen werden.}
dxe5 {Dem

Weißen die f-Linie zu öffnen (noch dazu wo hier schon zwei weiße

Schwerfiguren lauern, und der Punkt f7 bei Schwarz nur vom König

verteidigt ist), erscheint doch arg riskant. Allerdings weiß man aus

vielen ähnlichen Partien, dass die Abschließung der Mitte mit d6-d5 dem

Weißen erst recht freie Hand für Manöver am K-Flügel gibt.} 18. fxe5 Bc5

({Gar nicht in Frage kommt} Nxe5 19. Bh5! {, und der Drohung Lxe5 nebst

Einschlag auf f7 ist nicht gut zu begegnen, z.B.} Ng6 20. Bxg6 hxg6 21.

Be5! Qxe5 22. Qxf7+) 19. Bh5 {Auch jetzt ist f7 nicht zu decken.} Rf8 20.

Bxf7+ {Vielleicht dachte Schwarz, dass es nicht günstig für Weiß wäre, in

die Fesselung hineinzuschlagen, aber da täuscht er sich.} Kh8 21. Ne4

Nxe5? ({Ein direkter Fehler in schwieriger Lage. Immerhin verliert der Zug

sehr schön. Schwarz musste zuvor auf d4 tauschen, bevor er seinen Bauern

auf e5 wiedergewinnen konnte:} Bxd4 22. Rxd4 {Allerdings ist die schwarze

Stellung weder nach Dxe5 23. Sd6 noch nach Sxe5 23. Sg5 beneidenswert

(obwohl das Spiel jeweils sehr kompliziert geblieben wäre).}) 22. Nxc5!

{Nun jedoch läuft alles wie am Schnürchen. Es würde mich nicht wundern,

wenn Anand hier schon alles bis zum Schluss berechnet hätte.} bxc5 ({Die

Variante} Nxf7 (Rxf7 23. Bxe5) 23. Be5! Qxe5 24. Qxf7! Rg8 25. Qxg8! Kxg8

26. Rd8# {ist auch recht hübsch.})23. Bxe5 Qxe5 24. Bg6!! {Eine sehr

schöne Ausnutzung der Grundreihenschwäche von Schwarz (wie auch schon in

der zum 22. Zug von Schwarz gegebenen Variante), die ihre Ursache in der

fehlenden Verbindung der Türme hat (weil der Lc8 nicht entwickelt ist).

Auf Txf2 folgt Grundreihenmatt durch Td8. Aber jetzt steht der Tf8 mit

Matt ein.} Rg8 25. Bxh7! {Es geht im gleichen flotten Stil weiter.} Kxh7

26. Qh4+
Kg6 27. Rd3 {Jetzt ist der schwarze König im Kreuzfeuer der

feindlichen Schwerfiguren gefangen. Wie soll Schwarz der Drohung Tg3+ noch

begegnen?} Qh5 {Die Lady wirft sich noch schützend vor ihren Herrn Gemahl.

Aber man weiß ja auch aus diversen Krimis, dass diese Vorgehensweise nicht

immer fruchtet.} 28. Rg3+ {Und nun muss Schwarz erkennen, dass nach Kh6

29. Df4+ der Tb8 einsteht - schon wieder 'dank' der fehlenden Verbindung

der Türme! Er gab daher hier auf. Eine ebenso brillante wie lehrreiche

Partie!} 1-0

Vabanque - 01. Apr '16
Es ist natürlich schön, dass diese (wie ich finde wunderbare) Partie so schnell mit einem '+' honoriert wurde, aber Kommentare wären doch sehr gerne gesehen: entweder zur Partie oder zu meinem Geschreibse.
Ich wollte hier nur noch 2 Dinge loswerden: erstens dass ich es doch bemerkenswert finde, wie schnell diese Partie zum Ende kommt, obwohl Anand doch bis zum 15. Zug eigentlich nur positionelle und zum Teil prophylaktische Vorbereitungszüge spielt (die einem Amateur doch als Zeitverluste vorkommen mögen ... ja und zweitens, dass ich bei Anand vielleicht genau aus diesen Gründen nie sicher bin, ob ich ihn eigentlich als Positions- oder Angriffsspieler sehen soll. Vielleicht am ehesten als aggressiven Positionsspieler, was meint ihr?

Man kann ja die Spieler der Gegenwart durchaus im Stil mit denen der Vergangenheit vergleichen. Mein Vorschlag sieht so aus:

Carlsen - der moderne Capablanca

Anand - der moderne Lasker

Leko - der moderne Petrosian

Morozevich - der moderne Janowski

Topalov - der moderne Marshall

Shirov - der moderne Tal

Ponomariov - der moderne Rubinstein

Kramnik - der moderne Nimzowitsch (oder Réti?)

Widersprüche oder weitere Ideen in dieser Hinsicht werden gerne genommen!!!
Kellerdrache - 03. Apr '16
Es ist manchmal erstaunlich wie oft eigentlich schon recht gute Spieler meinen Grundsätze wie Entwicklung oder Königssicherheit außer Acht lassen zu dürfen. Das wird hier von Anand wirklich sehr überzeugend bestraft.

Anand mit Lasker vergleichen würde ich übrigens nicht. Da fehlt dann doch ein wenig Endspielkunst ;-)). Morozevitsch würde ich persönlich eher mit Reti vergleichen. Der hat sich mit einem Hang zur Kompliziertheit und manchmal übertriebender Originalität auch selbst das Leben schwer gemacht.
Vabanque - 04. Apr '16
So gesehen ja. Vom Stil her könnte man aber eher Aronian mit Réti vergleichen, finde ich. Und dann Moro vielleicht mit Tartakower oder mit Larsen (aber dann eher aus dem Grund, dass Moro gerne Eröffnungen spielt, die nicht anerkannt sind oder gar als widerlegt gelten). Aber natürlich hinken alle diese Parallelen.
Etwas merkwürdig dagegen finde ich, dass du Anand (als langjährigen Weltmeister) keine Endspielkunst zutraust. Nur weil Carlsen ihm im letzten Wettkampf bewiesen hat, dass er der _noch_ bessere Endspielkünstler ist?
Ich hatte Anand aber sowieso nicht wegen der Endspielkunst mit Lasker verglichen, sondern wegen der Kompliziertheit der Spielanlage, und weil man bei ihm nicht so recht weiß, ob er nun ein Positions- oder ein Kombinationsspieler ist. Da gehen die Elemente Hand in Hand.
Kellerdrache - 05. Apr '16
Naja, natürlich hab ich ein wenig überspitzt formuliert als ich Anands Endspielkunst kritisiert habe. Ein moderner GM muss auch im Endspiel was draufhaben. Allerdings gehört Anand nicht zu denen die speziell in diesem Bereich einen besonderen Ruf haben. Das war bei Lasker anders. Die beiden besagten Partien des WM-Kampfs hat Anand meiner Meinung aber wirklich hauptsächlich wegen seiner eher schwachen Enspielführung und nicht wegen Carlsens überragender verloren.
Was den Universalstil der beiden Spieler angeht funktioniert der Vergleich ziemlich gut. Beide sind weder eindeutige Taktiker noch Positionsspieler sondern ziehen sich für jede Stellung, jeden Gegner die richtige Rüstung an.
Vabanque - 05. Apr '16
Und deswegen hatte ich Anand auch mit Lasker verglichen. Dass dieser Vergleich nicht in allen Punkten zutreffen kann, ist mir klar.
Mit welchem historischen Spieler würdest du denn Anand vergleichen?

Ivanchuk hatte ich noch vergessen. Man könnte ihn vielleicht für den modernen Keres halten. Wobei auch Karjakin evtl. ein 'Kandidat' für den Vergleich mit Keres wäre.