Kommentierte Spiele

Brillante Mattangriffe (XIX): Janowski - Marshall 1912

Vabanque - 30. Jan '16
Frank James Marshall (1877-1944) ist vielleicht nicht unter die größten Spieler aller Zeiten einzureihen, aber sicher unter die brillantesten. Wenige haben so viele Glanzpartien produziert wie er. Überdies hatte er Siege gegen alle Größen seiner Zeit aufzuweisen. Die folgende Partie enthält eines seiner verblüffendsten Damenopfer. Insgesamt ist sie aber sehr geradlinig und daher eine seiner am leichtesten verständlichen Partien, sehr geeignet als 'Einstiegsdroge', um sich mit diesem Spieler näher zu befassen.


David Janowski Frank James Marshall Janowski vs. Marshall, Match 4 | Biarritz FRA | 3 | 1912.09.04 | 0:1
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1. e4 e5 2. Sf3 Sf6 Die 'Russische Verteidigung' gilt heute allgemein als eine Remisfortsetzung, und doch hat Marshall damit seinerzeit viele glänzende Angriffssiege erfochten. 3. Sxe5 d6 4. Sf3 Sxe4 5. d4 d5 6. Ld3 Ld6 Bis jetzt alles 'normal' und auch heute noch so gespielt. 7. c4 Der nächste schwarze Zug zeigt, dass Weiß vorsichtiger vorher rochiert hätte. Aber noch passiert nichts Schlimmes. Lb4+ 8. Kf1 Offenbar war Weiß mit 8. Sbd2 nicht zufrieden; er wollte sich den Springer nicht fesseln lassen. Aber ob der etwas exzentrisch anmutende Textzug, der freiwillig die Rochade aufgibt, empfehlenswerter ist? O-O 9. xd5 Weiß spielt im Folgenden konsequent auf die Unterminierung der schwarzen Vorposten-Springerstellung e4 - und verdirbt mit diesem Plan seine Stellung. Wir erleben hier wieder einmal, wie ein strategisch eigentlich 'korrekter', ja lehrbuchmäßiger Plan ganz konkret taktisch scheitern kann - ein weiterer Beweis für das Faktum, dass im Schach die Taktik, und nicht die Strategie das Primäre ist und war - heute genauso wie vor 100 Jahren, als diese Partie gespielt wurde. Dxd5 10. Dc2 Te8 11. Sc3 Dass dies an der folgenden verblüffenden Kombination scheitert, war sicher nicht unmittelbar zu sehen; aber die weiße Stellung war in jedem Fall schon schlecht. Sxc3 12. xc3 Dxf3!! Damit hatte Janowski nicht gerechnet; und sicher auch der Nachspielende dieser Partie nicht (außer er kannte sie schon)! 13. xb4
Denn nach 13. xf3 folgt Matt durch Lh3+ 14. Kg1 Te1+ 15. Lf1 Txf1# Also holt sich Weiß die auf f3 verlorene Figur auf b4 zurück.
Sc6 Nun kann Weiß immer noch nicht auf f3 nehmen und außerdem nicht d4 und b4 zugleich decken. 14. Lb2
Die Alternative 14. Le3 ist schlechter wegen Lh3! (eine interessante Kreuzfesselung des Bauern g2!) 15. Tg1 Txe3! Nach dem Textzug aber ist nicht nur der Bauer d4 gedeckt, sondern auch die weiße Grundreihe (durch den Ta1), so dass Weiß die schwarze Dame tatsächlich zu nehmen droht.
Sxb4 Reicht dieser Gegenangriff auf die weiße Dame denn aus? Gewinnt nun Weiß nicht eine Figur? 15. Lxh7+ Kh8 16. xf3 Lh3+ 17. Kg1 Sxc2 18. Lxc2 Te2 19. Tc1 Die Figur hat Weiß gewonnen, aber die Partie gewinnt Schwarz, da die weißen Figuren alle gebunden und sein König hoffnungslos eingeklemmt ist. Tae8 Droht Te1+ nebst Matt oder auch Txc2! 20. Lc3 Deckt e1 T8e3
Hier hätte Schwarz mittels Txc2! 21. Txc2 Te6! schneller gewinnen können, da Weiß absolut keine Verteidigung gegen Tg6# gehabt hätte. Aber auch der effektvolle Textzug reicht locker zum Sieg.
21. Lb4
Nach 21. xe3 geschieht Tg2+ 22. Kf1 Txc2+ nebst Txc1+ mit Gewinn beider Türme.
Txf3 22. Ld1 Nun gewinnt Weiß scheinbar weiteres Material, aber glaubte Janowski das wirklich? Wohl kaum. Tf6 Und schon gab Weiß auf, da er das Matt durch Tg6 nicht mehr verhindern kann, dank der bejammernswerten Lage des weißen Monarchen (auf Lc2 geschieht natürlich Txc2). Marshall hat Janowski hier für seine Eröffnungsexperimente drastisch bestraft.
PGN anzeigen
[Event "Janowski vs. Marshall, Match 4"]
[Site "Biarritz FRA"]
[Date "1912.09.04"]
[EventDate "1912.??.??"]
[Round "3"]
[Result "0-1"]
[White "David Janowski"]
[Black "Frank James Marshall"]


1. e4 e5 2. Nf3 Nf6 {Die 'Russische Verteidigung' gilt heute allgemein als

eine
Remisfortsetzung, und doch hat Marshall damit seinerzeit viele glänzende
Angriffssiege erfochten.} 3. Nxe5 d6 4. Nf3 Nxe4 5. d4 d5 6. Bd3 Bd6 {Bis

jetzt
alles 'normal' und auch heute noch so gespielt.} 7. c4 {Der nächste

schwarze
Zug zeigt, dass Weiß vorsichtiger vorher rochiert hätte. Aber noch

passiert
nichts Schlimmes.} Bb4+ 8. Kf1 {Offenbar war Weiß mit 8. Sbd2 nicht
zufrieden; er wollte sich den Springer nicht fesseln lassen. Aber ob der

etwas exzentrisch anmutende
Textzug, der freiwillig die Rochade aufgibt, empfehlenswerter ist?}
O-O 9.
cxd5 {Weiß spielt im Folgenden konsequent auf die Unterminierung der

schwarzen
Vorposten-Springerstellung e4 - und verdirbt mit diesem Plan seine

Stellung. Wir erleben hier wieder einmal, wie ein strategisch eigentlich

'korrekter', ja lehrbuchmäßiger Plan ganz konkret taktisch scheitern kann

- ein weiterer Beweis für das Faktum, dass im Schach die Taktik, und nicht

die Strategie das Primäre ist und war - heute genauso wie vor 100 Jahren,

als diese Partie gespielt wurde.}
Qxd5 10. Qc2 Re8 11. Nc3 {Dass dies an der folgenden verblüffenden
Kombination scheitert, war sicher nicht unmittelbar zu sehen; aber die

weiße
Stellung war in jedem Fall schon schlecht.}
Nxc3 12. bxc3 Qxf3$3 {Damit hatte Janowski nicht gerechnet; und sicher

auch der Nachspielende dieser Partie nicht (außer er kannte sie schon)!}

13. cxb4 ({Denn nach} 13. gxf3 {folgt Matt durch} Bh3+ 14. Kg1 Re1+ 15. Bf1 Rxf1#

{Also holt sich Weiß die auf f3 verlorene Figur auf b4 zurück.}) Nc6 {Nun

kann Weiß immer noch nicht auf f3 nehmen und außerdem nicht d4 und b4

zugleich decken.} 14. Bb2 ( {Die Alternative} 14. Be3 {ist schlechter

wegen} Bh3! {(eine interessante Kreuzfesselung des Bauern g2!)} 15. Rg1

Rxe3! {Nach dem Textzug aber ist nicht nur der Bauer d4 gedeckt, sondern

auch die weiße Grundreihe (durch den Ta1), so dass Weiß die schwarze Dame

tatsächlich zu nehmen droht.}) Nxb4 {Reicht dieser Gegenangriff auf die

weiße Dame denn aus? Gewinnt nun Weiß nicht eine Figur?} 15. Bxh7+ Kh8
16. gxf3 Bh3+ 17. Kg1 Nxc2 18. Bxc2 Re2 19. Rc1 {Die Figur hat Weiß

gewonnen, aber die Partie gewinnt Schwarz, da die weißen Figuren alle

gebunden und sein König hoffnungslos eingeklemmt ist.} Rae8 {Droht Te1+

nebst Matt oder auch Txc2!} 20. Bc3 {Deckt e1} R8e3 ({Hier hätte Schwarz

mittels} Rxc2! 21. Rxc2 Re6! {schneller gewinnen können, da Weiß absolut

keine Verteidigung gegen Tg6# gehabt hätte. Aber auch der effektvolle

Textzug reicht locker zum Sieg.}) 21. Bb4 ({Nach} 21. fxe3 {geschieht} Rg2+

22. Kf1 Rxc2+ {nebst Txc1+ mit Gewinn beider Türme.}) Rxf3
22. Bd1 {Nun gewinnt Weiß scheinbar weiteres Material, aber glaubte

Janowski das wirklich? Wohl kaum.} Rf6 {Und schon gab Weiß auf, da er das

Matt durch Tg6 nicht mehr verhindern kann, dank der bejammernswerten Lage

des weißen Monarchen (auf Lc2 geschieht natürlich Txc2). Marshall hat Janowski

hier für seine Eröffnungsexperimente drastisch bestraft.}
Kellerdrache - 31. Jan '16
Ein wirklich sehr hübsches Damenopfer. Man mag zwar anmäkeln, dass das ursprüngliche Dxf3 nicht so schwer durchzurechnen ist, aber schlieslich läßt Marshall seine Königin ja eine ganze Weile dort stehen. Janowski hat mehrere Gelegenheiten sie zu nehmen und sie alle müssen ja durchgerechnet werden.
Janowski hat übrigens die Partie auch strategisch nicht gut gespielt. Kontrolle der Grundreihe und Königssicherheit zu vernachlässigen wird wohl kein Stratege empfehlen. Weiß hatte zwar den richtigen Plan, hat ihn aber deutlich zu früh angegangen.
Vabanque - 31. Jan '16
Ja das stimmt natürlich.

Schließlich nimmt Janowski die Dame sogar, gewinnt damit eine Figur und verliert doch.

Der richtige Plan, die Vorpostenstellung des Se4 zu erschüttern, sollte eben erst nach der Rochade durchgeführt werden.
Bluemax - 01. Feb '16
sehr schön kommentierte partie !

ich hatte die partie vor zig- jahren schon gesehen und bin doch wieder nicht
auf das damenopfer gekommen.

schönes beispiel um in den eigenen partien wieder mal nach einem
damenopfer ausschau zu halten, hab ich jedenfalls selten genug.

lg
Vabanque - 01. Feb '16
@Bluemax: Ja, das sind genau die zwei Dinge

1) Man hat selten, sehr selten Gelegenheit zu so einem Opfer

2) Ergibt sich doch mal die Gelegenheit, erkennt und ergreift man sie nicht. Schade!

SF Kellerdrache hat zwar absolut Recht, wenn er schreibt, dass das Damenopfer nicht schwer durchzurechnen war. Aber: Zuerst muss man es SEHEN, bevor man es überhaupt durchrechnen kann. Jeder der das Damenopfer gesehen hätte, hätte es auch durchrechnen können. Das hätten wir alle geschafft. Aber hätten wir es auch alle GESEHEN? Ich behaupte ganz klar nein. Vielleicht hätten wir es hinterher gesehen, wenn die Gelegenheit schon vorbei war. Aber das langt dann nicht. Höchstens, um sich selber in den A... zu beißen ;)
Bluemax - 01. Feb '16
ja, da bin ich vollkommen deiner meinung Vabanque (und auch der
von SF Kellerdrache), im nachhinein ist es wahrlich nicht schwer alles zu
berechnen.

deswegen glaube ich ist es sehr wichtig sich die partien der (alten !) großmeister
anzuschauen, um sich auf diese art inspirieren zu lassen.

als ich mir letztens ein paar kasparow partien angeschaut hatte (gegen karpov)
habe ich bemerkt, wie ich in meinen folgenden partien mehr nach figurenopfer
ausschau gehalten habe, mit erfolg !

so kann man sehr schön das SEHEN trainieren.
Vabanque - 02. Feb '16
Man sollte dabei aber nicht so weit gehen wie ein ehemaliger Mannschaftskamerad von mir im Nahschach, der voller Begeisterung das Buch 'Richtig Opfern' von Spielmann studierte, und dann in der darauf folgenden Saison in jeder Partie etwas opferte - mit dem Resultat, dass er eine von den 9 Partien der Mannschaftskämpfe wunderschön gewann ... und die anderen mit dem Minusmaterial verlor :(

Es wird dem 'lernenden Schachfreund' (und das sind wir hier im Prinzip ja doch alle!) auch stets empfohlen, die Partien der alten Meister zu studieren (wobei Kasparov ja schon nicht mehr dazu zählt, oder?), weil diese Partien leichter verständlich und klarer in ihren strategischen Plänen sind als die heutigen.
Aber es gibt eine Reihe von heuten Spielern, die im Prinzip im Stil der alten Meister spielen - Shirov, Morozevich, und zum Teil auch Aronian und Ivanchuk. Trotzdem scheinen deren Partien zunächst viel komplizierter als der Großteil der Partien, die vor 50 oder gar 100 Jahren gespielt wurden.
Schaut man sich dann jedoch Partien von Aljechin, Keres, Tal oder Bronstein an, wird man wieder eines Besseren belehrt: damals wurde bereits genauso kompliziertes Schach gespielt!
Auf Top-Level war und ist Schach immer unglaublich kompliziert, und selber (oder gerade!) wenn es mal einfach scheint, kann man es nicht nachmachen. Die scheinbare Einfachheit von Rubinstein oder Capablanca ist am allerschwersten zu imitieren. Über die schale Fadheit von Karpov-Partien mag man schimpfen, aber wer von uns kriegt es hin, so zu spielen?
Vabanque - 02. Feb '16
Sorry, so spät nachts sollte man nicht mehr bei einer Flasche Wein Beiträge verfassen, da haben sich heftige Typos eingeschlichen ... es sollte oben natürlich heißen '... eine Reihe von heuTIGEN Spielern ... ' und 'SELBST (oder gerade!) wenn es mal einfach scheint' ....
Bluemax - 02. Feb '16
kein problem Vabanque, alles war verständlich.

deinen ausführungen über die alten meister ist eigentlich nichts mehr
hinzuzufügen vcn meiner seite, ich sehe das genauso.

leider ist mein studium der klassiker schon etwas her (15 Jahre etwa), sodass
ich nicht mehr alle partien von capablanca, tal und vor allem mein damaliger
lieblingspieler paul keres auf den schirm habe.
aber das wird sich ja dank deines threads hier wieder ändern !

herrlich deine anekdote über deinen mannschaftskamerad, da kann ich ja
zufrieden sein das meine kasparow'sche inspiration nur 2 partien angedauert
hat, dann war sie wieder weg ;)
Vabanque - 02. Feb '16
Ja, Keres ist schon ein Spieler, mit dem es sich zu beschäftigen lohnt ... habe mehrere Bücher über ihn, leider immer nur einzelne Partien daraus durchgearbeitet, war aber immer sehr sehr anregend ... habe auch etliche Bücher über Tal, aber immer wenn ich da reinschaue, schwirrt mir der Kopf :)