Kommentierte Spiele

Brillante Mattangriffe (X): Steinitz-Tschigorin WM 1892

Vabanque - 08. Nov '15
Spektakuläre Mattangriffe sind in Weltmeisterschaftspartien naturgemäß selten. Das war Ende des 19. Jh. auch nicht anders als heute. Insofern bildet die folgende Partie sicher eine ziemliche Ausnahme. Vermutlich ist sie sogar die einzige WM-Partie, in der ein König in der Brettmitte mattgesetzt wird.

Wilhelm Steinitz Mikhail Chigorin Havana WCH | Havana WCH | 4 | 1892.01.07 | C65 | 1:0
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1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 Sf6 4. d3 d6 5. c3 Steinitz spielt die Eröffnung sehr geschlossen. Er festigt das Zentrum, um später am Flügel vorgehen zu können. g6 6. Sbd2 Lg7 7. Sf1 Das muss damals fast sensationell gewesen sein: Statt schleunigst zu rochieren (was in geschlossenen Stellungen aber gar nicht nötig ist), startet Weiß ein zeitraubendes Springermanöver. O-O 8. La4 Schon wieder ein scheinbarer Zeitverlust. Aber der Läufer hat auf b5 keine Perspektive mehr. Sd7 Auch Schwarz gruppiert seinen Springer um. 9. Se3 Sc5 10. Lc2 Se6 11. h4! Bereits das Signal zum Königsangriff. Optisch sieht der Zug sehr verfrüht aus, denn Weiß hat zu diesem Zeitpunkt kaum Truppen im Spiel. Trotzdem wird es ihm gelingen, die fehlende Entwicklung mühelos nachzuholen. Se7 Schwarz bereitet d5 vor. 12. h5 d5 Auch heute noch ist das Prinzip gültig, dass man einen (verfrühten) Flügelangriff am besten mit einem Gegenstoß im Zentrum kontert. Erstaunlich (zumindest für mich) ist aber, dass der strategisch vollkommen korrekte Plan von Schwarz hier gar nichts ergibt; es gelingt ihm nicht, ernsthafte Drohungen zu schaffen. 13. xg6 xg6 Vielleicht hätte er doch besser mit dem h-Bauern zurückgeschlagen, auch wenn dann die h-Linie vollständig offen gewesen wäre? Ich hatte an einer ähnlichen Stelle schon einmal geschrieben, dass es in solchen Stellungen immer sehr schwer zu entscheiden ist, mit welchem Bauern man zurückschlagen soll. Tschigorin hat sich für das Schlagen mit dem f-Bauern vielleicht deswegen entschieden, weil sich jetzt die f-Linie für ihn öffnet. Nur wird sich zeigen, dass er mit dieses Linie rein gar nichts anfangen kann. Ein weiteres Argument für das Schlagen mit dem f-Bauern ist, dass dann der Bauer h7 gelegentlich über die 7. Reihe gedeckt werden kann. Aber auch dazu wird es nicht kommen. Der gravierende Nachteil des Schlagens mit dem f-Bauern ist jedoch (und diesen werden wir in der gegenwärtigen Partie sehr wohl anschaulich erleben), dass die Diagonale a2-g8 geschwächt wird. Deswegen ändert Weiß jetzt spontan seinen Plan und öffnet die Stellung, um sofort besagte Diagonale mit seinem Läufer in Besitz zu nehmen. 14. xd5 Sxd5 15. Sxd5 Dxd5 16. Lb3 Und schon gelangt dieser Läufer wieder zu Aktivität. Dc6 17. De2 Nun, bei geöffneter Stellung, steuert Weiß die schleunige lange Rochade an. Ld7 18. Le3 Kh8 Das Gegenüber des Lb3 (bzw. die Fesselung des Se6) war Schwarz natürlich unangenehm gewesen. Aber ist das Gegenüber des Th1 jetzt angenehmer für ihn? 19. O-O-O Nun hat Weiß in Windeseile seine gesamte Entwicklung nachgeholt und möchte mit d3-d4 die Wirksamkeit seiner Figuren noch mehr entfalten. Tae8 Hiergegen wendet sich dieser Zug. 20. Df1 Scheinbar nur, um dem Gegenüber des Te8 auszuweichen und wieder d3-d4 zu ermöglichen; in Wirklichkeit ist dieser unscheinbare Zug der Beginn eines tiefen und feinen Mattplans, den Tschigorin nicht durchschaut. a5 Abermals spielt Schwarz klassisch und beeilt sich, auch die weiße Königsstellung anzugreifen. 21. d4 xd4 Wegen der Gabeldrohung praktisch erzwungen. 22. Sxd4 Erst jetzt erkannte Tschigorin, dass nach Sxd4 Weiß mit 23. Txh7+! nebst Dh1+ das Matt erzwingen kann, weil die gefährliche Diagonale des Lb3 dann freigelegt ist. In der Partie kommt es ähnlich, aber um einiges verwickelter und auch schöner. Lxd4 Der Abtausch des Schutzläufers sieht katastrophal aus, aber Tschigorin spekuliert auf 23. Lxd4 (der c-Bauer ist ja gefesselt) Sxd4, wonach Weiß nicht viel hätte, da sein schwarzfeldriger Läufer ja ebenfalls getauscht wäre. Er hatte hier ohnehin keine Chance mehr; auch Damenzüge (die schwarze Dame hing ja) führen in eine Verluststellung. 23. Txd4! Steinitz hält von der schwarzen Idee nicht viel. Der Le3 muss natürlich auf dem Brett bleiben! Sxd4 Läuft in das vorbereitete Mattnetz. Es gab aber keine Rettung mehr. 24. Txh7+! Kxh7 25. Dh1+ Witzig, wie die Dame vom Eckfeld aus entscheidend eingreift. Kg7 26. Lh6+ Kf6 Oder Kh7 27. Lf8+ nebst Matt. Man erkennt, wie stark der Lb3 wirkt. 27. Dh4+ Ke5 28. Dxd4+ Einen Zug vor dem Matt gab Tschigorin auf. Eigentlich schade, denn er hätte sich doch zeigen lassen sollen, ob Steinitz auf Kf5 nun mit Df4 oder mit g2-g4 mattgesetzt hätte?! Nun werden wir es nie erfahren. (Ich persönlich ziehe das Matt mit dem Bauern vor, und ihr?).
PGN anzeigen[Event "Havana WCH"]
[Site "Havana WCH"]
[Date "1892.01.07"]
[EventDate "?"]
[Round "4"]
[Result "1-0"]
[White "Wilhelm Steinitz"]
[Black "Mikhail Chigorin"]
[ECO "C65"]


1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 Nf6 4. d3 d6 5. c3 {Steinitz spielt die

Eröffnung sehr geschlossen. Er festigt das Zentrum, um später am Flügel

vorgehen zu können.} g6 6. Nbd2 Bg7
7. Nf1 {Das muss damals fast

sensationell gewesen sein: Statt schleunigst zu rochieren (was in

geschlossenen Stellungen aber gar nicht nötig ist), startet Weiß ein

zeitraubendes Springermanöver.} O-O 8. Ba4 {Schon wieder ein scheinbarer

Zeitverlust. Aber der Läufer hat auf b5 keine Perspektive mehr.} Nd7 {Auch

Schwarz gruppiert seinen Springer um.} 9. Ne3 Nc5 10. Bc2 Ne6 11. h4!

{Bereits das Signal zum Königsangriff. Optisch sieht der Zug sehr verfrüht

aus, denn Weiß hat zu diesem Zeitpunkt kaum Truppen im Spiel. Trotzdem

wird es ihm gelingen, die fehlende Entwicklung mühelos nachzuholen.} Ne7

{Schwarz bereitet d5 vor.} 12. h5
d5 {Auch

heute noch ist das Prinzip gültig, dass man einen (verfrühten)

Flügelangriff am besten mit einem Gegenstoß im Zentrum kontert.

Erstaunlich (zumindest für mich) ist aber, dass der strategisch vollkommen

korrekte Plan von Schwarz hier gar nichts ergibt; es gelingt ihm nicht,

ernsthafte Drohungen zu schaffen.} 13. hxg6 fxg6 {Vielleicht hätte er doch

besser mit dem h-Bauern zurückgeschlagen, auch wenn dann die h-Linie

vollständig offen gewesen wäre? Ich hatte an einer ähnlichen Stelle schon

einmal geschrieben, dass es in solchen Stellungen immer sehr schwer zu

entscheiden ist, mit welchem Bauern man zurückschlagen soll. Tschigorin

hat sich für das Schlagen mit dem f-Bauern vielleicht deswegen

entschieden, weil sich jetzt die f-Linie für ihn öffnet. Nur wird sich

zeigen, dass er mit dieses Linie rein gar nichts anfangen kann. Ein

weiteres Argument für das Schlagen mit dem f-Bauern ist, dass dann der

Bauer h7 gelegentlich über die 7. Reihe gedeckt werden kann. Aber auch

dazu wird es nicht kommen. Der gravierende Nachteil des Schlagens mit dem

f-Bauern ist jedoch (und diesen werden wir in der gegenwärtigen Partie

sehr wohl anschaulich erleben), dass die Diagonale a2-g8 geschwächt wird.

Deswegen ändert Weiß jetzt spontan seinen Plan und öffnet die Stellung, um

sofort besagte Diagonale mit seinem Läufer in Besitz zu nehmen.} 14. exd5

Nxd5 15. Nxd5 Qxd5 16. Bb3 {Und schon gelangt dieser Läufer wieder zu

Aktivität.} Qc6
17. Qe2 {Nun, bei geöffneter Stellung, steuert Weiß die

schleunige lange Rochade an.} Bd7 18. Be3 Kh8 {Das Gegenüber des Lb3 (bzw.

die Fesselung des Se6) war Schwarz natürlich unangenehm gewesen. Aber ist

das Gegenüber des Th1 jetzt angenehmer für ihn?} 19. O-O-O {Nun hat Weiß

in Windeseile seine gesamte Entwicklung nachgeholt und möchte mit d3-d4

die Wirksamkeit seiner Figuren noch mehr entfalten.} Rae8 {Hiergegen

wendet sich dieser Zug.} 20. Qf1 {Scheinbar nur, um dem Gegenüber des Te8

auszuweichen und wieder d3-d4 zu ermöglichen; in Wirklichkeit ist dieser

unscheinbare Zug der Beginn eines tiefen und feinen Mattplans, den

Tschigorin nicht durchschaut.} a5 {Abermals spielt Schwarz klassisch und

beeilt sich, auch die weiße Königsstellung anzugreifen.} 21. d4 exd4


{Wegen der Gabeldrohung praktisch erzwungen.} 22. Nxd4 {Erst jetzt

erkannte Tschigorin, dass nach Sxd4 Weiß mit 23. Txh7+! nebst Dh1+ das

Matt erzwingen kann, weil die gefährliche Diagonale des Lb3 dann

freigelegt ist. In der Partie kommt es ähnlich, aber um einiges

verwickelter und auch schöner.} Bxd4 {Der Abtausch des Schutzläufers sieht

katastrophal aus, aber Tschigorin spekuliert auf 23. Lxd4 (der c-Bauer ist

ja gefesselt) Sxd4, wonach Weiß nicht viel hätte, da sein schwarzfeldriger

Läufer ja ebenfalls getauscht wäre. Er hatte hier ohnehin keine Chance

mehr; auch Damenzüge (die schwarze Dame hing ja) führen in eine

Verluststellung.} 23. Rxd4! {Steinitz hält von der schwarzen Idee nicht

viel. Der Le3 muss natürlich auf dem Brett bleiben!} Nxd4 {Läuft in das

vorbereitete Mattnetz. Es gab aber keine Rettung mehr.} 24. Rxh7+! Kxh7

25. Qh1+ {Witzig, wie die Dame vom Eckfeld aus entscheidend eingreift.} Kg7
26. Bh6+ Kf6 {Oder Kh7 27. Lf8+ nebst Matt. Man erkennt, wie stark der Lb3 wirkt.} 27. Qh4+ Ke5 28. Qxd4+ {Einen Zug vor dem Matt gab Tschigorin auf. Eigentlich schade, denn er hätte sich doch zeigen lassen sollen, ob Steinitz auf Kf5 nun mit Df4 oder mit g2-g4 mattgesetzt hätte?! Nun werden wir es nie erfahren. (Ich persönlich ziehe das Matt mit dem Bauern vor, und ihr?).} 1-0
Kellerdrache - 08. Nov '15
Mal wieder ein Beispiel für meine These das Spanisch eigentlich gar keine offene Eröffnung ist ;-)). Die Partie zeigt, dass Steinitz positionelles Verständnis seiner Zeit noch weit voraus war. Positionelles Verständnis der kritischen Linien und Diagonalen führt sozusagen zu der passenden taktischen Lösung.
Diese Partie gefällt mir so gut weil sie, mehr als andere in dieser Reihe, eine Partie aus einem Guß ist. Dadurch kommt der Schlußangriff vielleicht weniger überraschend aus heiterem Himmel sondern eher als krönender Abschluß einer souverän geführten Schachpartie.
Vabanque - 08. Nov '15
Ja, das stimmt, die Partie macht einen sehr homogenen Eindruck. So etwas sieht man selten, und das ist wohl auch der Grund, warum die Partie, obwohl sie so alt ist, immer noch in fast allen Sammlungen mit den größten Partien aller Zeiten auftaucht. Sie wirkt kein bisschen angestaubt, sondern immer noch frisch wie eh und je.
cutter - 08. Nov '15
Eine wunderschöne Partie.
Tschigorin macht eigentlich nicht wirklich einen Fehler, aber Steinitz entdeckt eine vielzügige Mattvariante und schon wars passiert.
Klasse!
Und wieder schön kommentiert.
Und klar: Ich hätte auch mit dem Bauern mattgesetzt ;-)
Danke!
Vabanque - 08. Nov '15
Sagen wir mal so: Tschigorin macht keinen offensichtlichen Fehler. Er spielt nach den (heute jedem besseren Durchschnittsspieler bekannten) allgemeinen klassischen Prinzipien richtig: Er entwickelt seine Figuren, rochiert frühzeitig, stößt im Zentrum vor, schickt seinen a-Bauern in Richtung gegnerische Königsstellung vor. Aber Steinitz beweist ein viel tieferes Verständnis für die Erfordernisse dieser konkreten Stellung. Die vielzügige Mattvariante ist dann nur noch die Krönung der überlegenen Strategie. Gerade bei dieser Partie greifen Strategie und Taktik in geradezu idealer Weise ineinander.
cutter - 08. Nov '15
Wäre doch geneigt, auch von Glück zu reden.
Manchmal gibt es fantastische Ideen, sie scheitern leider an irgendeinem kleinen Löchlein. Und hier hat es funktioniert und konnte umgesetzt werden.
Natürlich hat Steinitz sehr geschickt seine Diagonalgewalt aufgebaut und Tschigorin hat das wohl unterschätzt.
Ich denke, dass 21. d4! der Schlüssel zum Gewinn war und e4 erzwungen hat mit ebenfalls nur mittelprächtigen Aussichten für Schwarz. Nachdem Tschigorin das verpasst hat, war der Weg frei für diese wunderschöne Abschlusskombination.
freak40 - 10. Nov '15
Toll und Danke :-)