Kommentierte Spiele

Alexej Shirov (I): Lautier - Shirov 1990

Vabanque - 04. Feb '16
Im vorigen Beitrag habe ich ja behauptet, dass Shirov die Begabung besitzt, Stellungen aufs Brett zu zaubern, wo man als Nachspielender denkt: 'Träum ich oder wach ich?' Diese Behauptung möchte ich nun mit einigen Beispielen untermauern. In dieser Partie bringt Shirov einfach so mir nichts dir nichts ein doppeltes Qualitätsopfer, und dann opfert er weiter, so dass er schließlich eine Bauernmeute für einen Turm hat, wodurch im Laufe der Partie einige der ungewöhnlichsten Stellungen, die ich je gesehen habe, aufs Brett kommen ...
Die Partie erhielt den zweiten Schönheitspreis des Turniers. (Wie muss dann erst die Partie, die den ersten Schönheitspreis gewann, gewesen sein?)
Joel Lautier Alexey Shirov Manila Interzonal | Manila PHI | 11 | 1990.07.11 | E63 | 0:1
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. d4 Sf6 2. Sf3 g6 3. g3 Lg7 4. Lg2 O-O 5. O-O d6 Typisch für viele modernen Glanzpartien ist, dass sie aus völlig geschlossenen Stellungen entstehen, in denen die Parteien zunächst sogar 'Berührungsängste' zeigen. 6. c4 Sc6 7. Sc3 a6 Für den unbefangenen ... äh nein, klassisch geschulten Betrachter wirkt die schwarze Aufstellung antipositionell. Wir alle haben gelernt, in Damenbauer-Eröffnungen den c-Bauern nicht zu verstellen; und was soll eigentlich dieser unmotivierte Aufzug des Randbauern? 8. h3 Dieser Randbauern-Zug dagegen ist verständlich: Weiß möchte dem schwarzen Damenläufer das beste Entwicklungsfeld (nämlich g4) nehmen. Ld7 Nachdem der Läufer nun auch auf f5 keine sichere Bleibe hätte (wegen g3-g4), zieht er jetzt dahin. Aber eine 'Entwicklung' im klassischen Sinn ist das ja nun nicht gerade. 9. Lg5 Aber diese weit ausgreifende Entwicklung ist auch nicht gerade kraftvoll. h6 Tauschen wird Weiß ja nicht wollen?! 10. Le3 Tb8 Der schwarze Plan zeigt sich, aber ist er positionsgemäß? 11. Sd5 Hat Weiß denn nicht ein starkes Übergewicht im Zentrum? b5 12. Sxf6+ xf6 Beim Zurückschlagen mit dem Läufer verlöre Schwarz den h6-Bauern, also hat Shirov diese 'Verschlechterung' seiner Bauernstellung bei b7-b5 in Kauf genommen. 13. xb5 Txb5 Wahrscheinlich hatte der Nachspielende hier eher axb5 erwartet; aber Shirov ist stets auf offene Linien und Figurenspiel aus. 14. Dd2 Deckt nicht nur b2, sondern greift auch h6 nochmals an. g5 Sieht positionell eigentlich auch furchtbar aus, aber wie will Weiß durchkommen? 15. d5 Von diesem Vorstoß erhoffte sich Weiß wohl Vorteil. Shirov lobt übrigens diesen Zug seines Gegners. Se7 16. Sd4 Das war die Absicht. Txd5!? Munter opfert Shirov die Qualität. Für den unbefangenen Beobachter sieht es eher nach einer milden Verzweiflungstat aus, da Turmrückzüge dem Schwarzen offenbar eine unbequeme Stellung geben. Und Shirov opfert lieber, als sich in die Verteidigung zu begeben. 17. Lxd5 Sxd5 Aber nun ist mit dem Lg2 ein wichtiger Verteidiger der weißen Rochadestellung vom Brett verschwunden ... 18. Sf5 Weiß gibt einen Bauern, um sich in klassischer Vollentwicklung aufstellen zu können. Auch diesen Zug seines Gegners lobt Shirov. Man fragt sich, warum Weiß eigentlich verliert, wenn er doch so viele geistreiche Züge spielt. Lxf5 19. Dxd5 Lxh3 20. Tfd1 Te8 21. Tac1 f5 Zwecks Wiederbelebung des Lg7. 22. Td2 Deckt b2. Txe3!? Dieses zweite Qualitätsopfer ist noch viel erstaunlicher als das erste. Aber Shirov hat richtig erkannt, dass in dieser Stellung die beiden Läufer von Schwarz nützlicher sind als die beiden Türme von Weiß. Eine kuriose Konstellation! 23. xe3 De7 24. Kf2 Deckt e3 und bereitet Th1 vor. Le5 25. Th1?
Nach dem interessanten 25. Tdc2 c5 die einzige Deckung von c7 26. b4!? f4! wäre der Kampf Spitz auf Knopf gestanden. Der weiße Textzug sieht gut aus, scheitert aber an einem weiteren (!!) Opfer Shirovs. Und diesmal ist es nicht mehr spekulativ, sondern völlig korrekt.
Lxg3+! 26. Kxg3
Shirov gibt hier keine Alternativen für Weiß an. Lustig, aber trivial wäre jedenfalls 26. Kg1 Dxe3#
, und nach 26. Kf3 zwingt Schwarz Weiß durch g4+ zum Nehmen auf g3, mit der möglichen Folge: 27. Kxg3 Dxe3+ 28. Kh4
28. Kh2 Df2+
Df2+ 29. Kh5 Df4 droht Dg5# 30. Kh4 Lg2! Blockade des Fluchtfelds g2 31. Dxg2 andere Züge lassen Schwarz in Materialvorteil g3+ 32. Kh3 Dg4#
Dxe3+ 27. Df3
Schon muss Weiß Material zurückgeben, denn auf 27. Kh2 käme Df2+ 28. Kxh3 g4# , ein sehr schönes Matt mit zwei Minustürmen bei Schwarz!
Dxd2 28. Da8+
Auf sofortiges 28. Txh3 folgt g4 , worauf Weiß dann halt doch 29. Da8+ Kg7 spielen muss, und nach einem Zug des angegriffenen weißen Turms schlägt Schwarz dann wie in der Partie auf e2.
Kg7 29. Kxh3 Dxe2 Und nun ist die von mir im Vorspann erwähnte eigenartige und seltene Konstellation entstanden, dass Schwarz 5 Bauern für einen Turm hat. Rein rechnerisch bedeutet das materiellen Gleichstand; aber abgesehen davon, dass so etwas in der Praxis fast nie auftaucht, werden in der Regel die Bauern das Nachsehen haben. Hier jedoch steht der weiße König zu 'komisch' ... 30. Dd5? Ein dicker Fehler. Die einzige Chance bestand in Dg2! Kg6?!
Denn jetzt hätte Schwarz mit Df2! die Partie sofort beenden können, da Weiß gegen die Drohung g4# keine Verteidigung gehabt hätte. Zunächst scheint es sicher merkwürdig, dass der große Taktiker Shirov diese relativ einfache Möglichkeit nicht sah. Aber die Erklärung ist nicht so schwierig: Shirov hatte sich vorher einen methodischen Gewinnplan zurecht gelegt und führte ihn jetzt auch durch. Mit so einem Bock, wie Weiß ihn hier präsentierte, rechnete er einfach nicht, und deswegen suchte er auch gar nicht nach einem Zug, der die Partie sofort beendete, sondern spielte einfach nach Plan.
31. Dd4 Wieder war Dg2 besser, aber Weiß zieht ein Ende mit Schrecken den Schrecken ohne Ende vor. Die schwarze Bauernmasse gerät jetzt schnell ins Rollen. f4 Nun droht Df3+ nebst Dg3#. 32. Tg1
32. Dd5 um Df3+ zu verhindern g4+ 33. Kh4 Df2+! die Deckung dieses Feldes hat Weiß mit Dd5 aufgegeben 34. Kxg4 Dg3# ist auch hübsch.
f5 Nun kann Weiß nicht mal auf f4 schlagen, da auf 32. Dxf4 Dh5+ die Fesselung aufhebt, so dass Schwarz im nächsten Zug auf f4 nehmen könnte. Und ansonsten droht Schwarz g4+ nebst Dh2#. Das alles war zu viel für Weiß; er gab auf. Wie mag er sich nach so einer Partie gefühlt haben?
PGN anzeigen
[Event "Manila Interzonal"]
[Site "Manila PHI"]
[Date "1990.07.11"]
[EventDate "1990.06.29"]
[Round "11"]
[Result "0-1"]
[White "Joel Lautier"]
[Black "Alexey Shirov"]
[ECO "E63"]


1.d4 Nf6 2.Nf3 g6 3.g3 Bg7 4.Bg2 O-O 5.O-O d6 {Typisch für viele

modernen Glanzpartien ist, dass sie aus völlig geschlossenen Stellungen

entstehen, in denen die Parteien zunächst sogar 'Berührungsängste'

zeigen.} 6.c4 Nc6 7.Nc3
a6 {Für den unbefangenen ... äh nein, klassisch

geschulten Betrachter wirkt die schwarze Aufstellung antipositionell. Wir

alle haben gelernt, in Damenbauer-Eröffnungen den c-Bauern nicht zu

verstellen; und was soll eigentlich dieser unmotivierte Aufzug des

Randbauern?} 8.h3 {Dieser Randbauern-Zug dagegen ist verständlich: Weiß

möchte dem schwarzen Damenläufer das beste Entwicklungsfeld (nämlich g4)

nehmen.} Bd7 {Nachdem der Läufer nun auch auf f5 keine sichere Bleibe

hätte (wegen g3-g4), zieht er jetzt dahin. Aber eine 'Entwicklung' im

klassischen Sinn ist das ja nun nicht gerade.} 9.Bg5 {Aber diese weit

ausgreifende Entwicklung ist auch nicht gerade kraftvoll.} h6 {Tauschen

wird Weiß ja nicht wollen?!} 10.Be3 Rb8 {Der schwarze Plan zeigt sich,

aber ist er positionsgemäß?} 11.Nd5 {Hat Weiß denn nicht ein starkes

Übergewicht im Zentrum?} b5 12.Nxf6+ exf6 {Beim Zurückschlagen mit dem

Läufer verlöre Schwarz den h6-Bauern, also hat Shirov diese

'Verschlechterung' seiner Bauernstellung bei b7-b5 in Kauf genommen.}
13.cxb5 Rxb5 {Wahrscheinlich hatte der Nachspielende hier eher axb5

erwartet; aber Shirov ist stets auf offene Linien und Figurenspiel aus.}

14.Qd2 {Deckt nicht nur b2, sondern greift auch h6 nochmals an.} g5 {Sieht

positionell eigentlich auch furchtbar aus, aber wie will Weiß

durchkommen?} 15.d5 {Von diesem Vorstoß erhoffte sich Weiß wohl Vorteil.

Shirov lobt übrigens diesen Zug seines Gegners.} Ne7 16.Nd4 {Das war die

Absicht.} Rxd5!? {Munter opfert Shirov die Qualität. Für den unbefangenen

Beobachter sieht es eher nach einer milden Verzweiflungstat aus, da

Turmrückzüge dem Schwarzen offenbar eine unbequeme Stellung geben. Und

Shirov opfert lieber, als sich in die Verteidigung zu begeben.} 17.Bxd5

Nxd5
{Aber nun ist mit dem Lg2 ein wichtiger Verteidiger der weißen

Rochadestellung vom Brett verschwunden ... } 18.Nf5 {Weiß gibt einen

Bauern, um sich in klassischer Vollentwicklung aufstellen zu können. Auch

diesen Zug seines Gegners lobt Shirov. Man fragt sich, warum Weiß

eigentlich verliert, wenn er doch so viele geistreiche Züge spielt.} Bxf5

19.Qxd5 Bxh3 20.Rfd1 Re8 21.Rac1 f5 {Zwecks Wiederbelebung des Lg7.}

22.Rd2 {Deckt b2.} Rxe3!?
{Dieses zweite Qualitätsopfer ist noch viel

erstaunlicher als das erste. Aber Shirov hat richtig erkannt, dass in

dieser Stellung die beiden Läufer von Schwarz nützlicher sind als die

beiden Türme von Weiß. Eine kuriose Konstellation!} 23.fxe3 Qe7 24.Kf2

{Deckt e3 und bereitet Th1 vor.} Be5 25.Rh1? ({Nach dem interessanten} 25.

Rdc2 c5 {die einzige Deckung von c7} 26. b4!? f4! {wäre der Kampf Spitz

auf Knopf gestanden. Der weiße Textzug sieht gut aus, scheitert aber an

einem weiteren (!!) Opfer Shirovs. Und diesmal ist es nicht mehr

spekulativ, sondern völlig korrekt.}) Bxg3+! 26.Kxg3 ({Shirov gibt hier

keine Alternativen für Weiß an. Lustig, aber trivial wäre jedenfalls} 26. Kg1 Qxe3#) ({, und nach} 26. Kf3 {zwingt Schwarz Weiß durch} g4+ {zum

Nehmen auf g3, mit der möglichen Folge:} 27. Kxg3 Qxe3+ 28. Kh4 (28. Kh2 Qf2+)

Qf2+ 29. Kh5 Qf4 {droht Dg5#} 30. Kh4 Bg2! {Blockade des Fluchtfelds g2}

31. Qxg2 {andere Züge lassen Schwarz in Materialvorteil} g3+ 32. Kh3 Qg4#)

Qxe3+ 27.Qf3 ({Schon muss Weiß Material zurückgeben, denn auf} 27. Kh2

{käme} Qf2+ 28. Kxh3 g4# {, ein sehr schönes Matt mit zwei Minustürmen bei

Schwarz!}) Qxd2
28.Qa8+ ({Auf sofortiges} 28. Rxh3 {folgt} g4 {, worauf

Weiß dann halt doch} 29. Qa8+ Kg7 {spielen muss, und nach einem Zug des

angegriffenen weißen Turms schlägt Schwarz dann wie in der Partie auf e2.} ) Kg7 29.Kxh3 Qxe2 {Und nun ist die von mir im Vorspann erwähnte

eigenartige und seltene Konstellation entstanden, dass Schwarz 5 Bauern

für einen Turm hat. Rein rechnerisch bedeutet das materiellen Gleichstand;

aber abgesehen davon, dass so etwas in der Praxis fast nie auftaucht,

werden in der Regel die Bauern das Nachsehen haben. Hier jedoch steht der

weiße König zu 'komisch' ... } 30.Qd5? {Ein dicker Fehler. Die einzige

Chance bestand in Dg2!} Kg6?! ({Denn jetzt hätte Schwarz mit} 30... Qf2!

{die Partie sofort beenden können, da Weiß gegen die Drohung g4# keine

Verteidigung gehabt hätte. Zunächst scheint es sicher merkwürdig, dass der

große Taktiker Shirov diese relativ einfache Möglichkeit nicht sah. Aber

die Erklärung ist nicht so schwierig: Shirov hatte sich vorher einen

methodischen Gewinnplan zurecht gelegt und führte ihn jetzt auch durch.

Mit so einem Bock, wie Weiß ihn hier präsentierte, rechnete er einfach

nicht, und deswegen suchte er auch gar nicht nach einem Zug, der die

Partie sofort beendete, sondern spielte einfach nach Plan.}) 31.Qd4

{Wieder war Dg2 besser, aber Weiß zieht ein Ende mit Schrecken den

Schrecken ohne Ende vor. Die schwarze Bauernmasse gerät jetzt schnell ins

Rollen.} f4 {Nun droht Df3+ nebst Dg3#.} 32.Rg1 (32. Qd5 {um Df3+ zu

verhindern} g4+ 33. Kh4 Qf2+! {die Deckung dieses Feldes hat Weiß mit Dd5

aufgegeben} 34. Kxg4 Qg3# {ist auch hübsch.}) f5 {Nun kann Weiß nicht mal

auf f4 schlagen, da auf 32. Dxf4 Dh5+ die Fesselung aufhebt, so dass

Schwarz im nächsten Zug auf f4 nehmen könnte. Und ansonsten droht Schwarz

g4+ nebst Dh2#. Das alles war zu viel für Weiß; er gab auf. Wie mag er

sich nach so einer Partie gefühlt haben?} 0-1
alms - 05. Feb '16
Großartige Partie! Der esrte Schönheitspreis ging übrigens an chessgames.com/perl/chessgame?gid=1038405
Kellerdrache - 05. Feb '16
Shirov hat einfach zuviel mit Tal trainiert. Als Gegner muß man da ja dauernd mit irgendwelchen irren Opfern rechnen. Eine gemütliche Partie unter Freunden kommt so natürlich nie zu Stande ;-)).
Sehr schöne Partie und einleuchtende Kommentierung.
Vabanque - 05. Feb '16
@alms: Ja danke! Die von dir verlinkte Partie hatte ich noch nie gesehen. Sie ist natürlich auch toll, aber von der Originalität und Kreativität der gesamten Spielführung würde ich der Shirov-Partie dennoch den Vorzug geben!
Übrigens interessant zu wissen, dass du ab und zu hier vorbeischaust!

@Kellerdrache: Das Kompliment der 'einleuchtenden Kommentierung' gebe ich natürlich gerne an dich zurück, das könnte ich auch unter jeden deiner Beiträge schreiben :)
Vabanque - 05. Feb '16
A propos, was soll das mit der 'gemütlichen Partie unter Freunden'?`;) Wie hat so eine denn schachlich auszusehen? :-)))
Selbst GM Unzicker, der sicher einer der nettesten Menschen überhaupt war, sagte mal: 'Auf dem Schachbrett gibt es keine Freundschaft!'
alms - 06. Feb '16
Ich finde die Schirowpartie auch schöner, weil klarer, das wirkt da so einfach.

Btw . Es gab doch mal den Versuch, Kriterien für Schönheit im Schach zu definieren. Finde ich gerade nicht...
pirc_ - 07. Feb '16
Ich glaube da lag Alexandra Kosteniuk recht weit vorne ;-)
Vabanque - 07. Feb '16
Oooohhh ... DIESE Art Schönheit war hier nicht gemeint ;)

Le Lionnais hat in seinem Buch 'Les prix de beauté aux échecs' den Versuch unternommen, Kriterien für Schönheit im Schach zu definieren. Habe zwar das Buch da. Aber heute nacht mache ich nicht mehr den Versuch, das jetzt aus dem Französischen zu übersetzen :)