Kommentierte Spiele
100 Jahre Schach (VIII) 2010-16 : Giri-Aronian
Kellerdrache - 24. Jul '16
Die aktuelle Dekade zeichnet sich dadurch aus, dass wieder einmal eine Wachablösung stattgefunden hat. Die alten Helden (Kasparov, Karpov, Kortschnoi, Hübner, Shirov usw.) traten ab oder wanderten in der Weltrangliste nach unten. Die neue Generation, angeführt von Magnus Carlsen übernimmt die Herrschaft.
So klar wie Carlsen die Nummer 1 ist so unklar ist die Frage wer sein Hauptkonkurrent ist. Karjakin, der ihn ja als nächster herausfordert ? Der "alte" Anand der es schon zweimal versucht hat ? Caruana, Topalov oder vielleicht Aronian ?
Aronian war lange Zeit die Nummer 2 der Weltrangliste. Er ist taktisch stark, gut ihm Endspiel und erfindungsreich im Mittelspiel, aber in den Kandidatenkämpfen hat er sich bisher nicht durchsetzen können. Fehlen auch ihm die Nerven um ganz nach oben zu kommen ?
In der folgenden Partie treffen zwei der Top Ten aufeinander und es gelingt ihnen eine Auseinandersetzung die sowohl strategisch als auch taktisch überzeugt. Meine Kommentierung tut es hoffentlich auch.































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So klar wie Carlsen die Nummer 1 ist so unklar ist die Frage wer sein Hauptkonkurrent ist. Karjakin, der ihn ja als nächster herausfordert ? Der "alte" Anand der es schon zweimal versucht hat ? Caruana, Topalov oder vielleicht Aronian ?
Aronian war lange Zeit die Nummer 2 der Weltrangliste. Er ist taktisch stark, gut ihm Endspiel und erfindungsreich im Mittelspiel, aber in den Kandidatenkämpfen hat er sich bisher nicht durchsetzen können. Fehlen auch ihm die Nerven um ganz nach oben zu kommen ?
In der folgenden Partie treffen zwei der Top Ten aufeinander und es gelingt ihnen eine Auseinandersetzung die sowohl strategisch als auch taktisch überzeugt. Meine Kommentierung tut es hoffentlich auch.
Anish Giri Levon Aronian Wijk aan Zee | 10 | 2012.01.25 | D37 | 0:1
8








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4
3
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a
1

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h

1. d4 d5 2. c4 e6 3. Sc3 Le7 4. Sf3 Sf6 5. Lf4 O-O 6. e3 Sbd7 7. Le2 xc4 Schwarz schlägt nachdem der Läufer gezogen hat und provoziert damit einen Tempoverlust. Zu Zeiten Aljechins und Capablancas wurde dieses Tempo noch für sehr wichtig erachtet. 8. O-O Sb6 Das ist eine ziemlich seltene Seitenvariante des Damengambits. Der Bauer wird erstmal gedeckt und d5 wird ins Auge gefasst. 9. Dc2 Sh5 Aronian nutzt aus, dass Weiß sich kein Rückzugsfeld auf h2 verschafft hat. Allerdings steht der Springer hier abseits vom Geschehen und nicht sehr sicher. 10. Le5?! f6 11. Sg5 Anish Giri hat oft den Ruf etwas übervorsichtig zu sein. Hier ist er es nicht. Mit einem taktischen Trick sorgt er dafür, dass ihm sein Läufer vorerst auf e5 erhalten bleibt. Es drohen Dxh7 matt und Lxh5. Daher muß der Springer geschlagen werden. xg5 12. Lxh5 Ein kurzes Zwischenfazit: Giri hat sein Läuferpaar behalten. Aronian hat einen Doppelbauern bekommen der, wie sich zeigen wird, keineswegs schwach ist. Auf der anderen Seite hat Schwarz die halboffene f-Linie erhalten. Ld7 Die schwarze Stellung hat zwei Schwächen. Die Bauernstellung, vor allem der Isolani auf e6 und die nicht sehr aktiven Leichtfiguren. Der Ld7 will nach c6, wo er ein Sorgenkind weniger wäre. Das will Weiß nicht zulassen 13. Lf3 Txf3!? Überraschung! Aronian opfert die Qualität was besonders wagemutig ist weil er eigentlich noch keine sturmbereiten Truppen hat. 14. xf3 Lc6 wäre hier schon möglich. Die Diagonale könnte aber schnell mit e4 verstopft werden. Ld6 Ein Mehrzweckzug. Man will die aktivste weiße Figur abtauschen. Nach Lxd6 verbessert sich die Bauernstruktur erheblich und nach einem möglichen e4 kämpft man um die Kontrolle von f4 15. De4 Giri spielt weiterhin aktiv und wagemutig. Die Dame kann hier natürlich nicht bleiben. Ja man lädt Lc6 förmlich ein was ja jetzt nicht sofort mit e4 beantwortet werden kann. Aber die Dame möchte ohnehin nicht bleiben Lc6 16. Dg4 greift e6 an. Hauptsächlich aber positioniert sich die Königin für einen Angriff auf die gegnerische Rochadestellung. Es ist keine unwichtige Frage wer die halboffene g-Linie ausnutzen wird De7 17. Lxd6 Ein viel kritisierter Zug weil er die schwarze Bauernstellung saniert, aber wenn man Schwarz schlagen lässt versaut man seine eigene Bauernstellung und auf g3 würde der Läufer die g-Linie verstopfen. xd6 18. Se4 mit Angriff auf g5 und Druck auf d6 h6 19. Dg3 erhöht den Druck auf d6 d5 eine interessante strategische Entscheidung. Auf der einen Seite schliest man die Diagonale des Läufers, der sich nun einen neuen Arbeitsort suchen muss. auf er anderen Seite sichert man seinen Mehrbauern auf c4 und vertreibt den Springer 20. Sc3 aktiver sah Sc5 mit Druck auf e6 und b7 aus. Tf8 eine neue Partiephase beginnt. Nachdem das Zentrum vorerst befriedet wurde geht es jetzt darum die deplazierten Figuren umzugruppieren. Weiß dagegen bereitet einen Angriff über g- und h-Linie vor. 21. Se2 Tf5 Wieder so ein Mehrzweckzug. Man bereitet eine mögliche Verdopplung mit der Dame vor, ebenso ein eventuelles e5 und auf der defensiven Seite kann jetzt ein Schlagen auf g5 mit Txg5 beantwortet werden. 22. Kg2 Der Beginn von Giris Angriffsplan. In Kurzform: Der König aus dem Weg, Turm auf h1, mit h4 Linienöffnung erzwingen und h-Linie mit Schwerfiguren unter Kontrolle nehmen. Ein sehr einleuchtender aber wie Aronian nachweisen wird auch verfehlter Plan Sd7 Die zweite abseits stehende Figur wird umgruppiert. Es bieten sich hier zwei Wege an. Einer über f6 und h5 und der zweite über f8-g6-h4. 23. Th1 Sf8 24. h4 Sg6 Der Turm auf f5 verhindert die sofortige Linienöffnung mit hxg5 was nach Txg5 die Dame verlieren würde. h5 zwingt den Springer nur auf ein Feld wo er sowieso hin will. Aronians Züge haben Giris Angriff so verlangsamt, dass er im Ansatz stecken bleibt. Vor allem kommt jetzt der Springer nach h4 wo er, gemeinsam mit dem Tf5 auf f3 drückt. Weiß entscheidet sich lieber den h-bauern zu geben 25. f4 jetzt ginge hxg5, doch soweit kommt es nicht Sxh4+ 26. Kf1 Db4 Giri hat den strategischen Teil der Partie bereits verloren. Sein Angriff ist stecken geblieben. Turm und König haben sozusagen die Rochade zurückgenommen und Schwarz hat zwei seiner drei Sorgenkinder aktiviert. Der Ausflug der Dame sieht etwas nach Amateurschach aus, aber es gibt durchaus einen Plan. 27. Tb1 Le8 Der letzte Faulenzer erscheint zur Arbeit. Sein Ziel ist g6 von wo er nicht nur den Turm auf b1 angreift sondern auch in die weiße Stellung eindringen kann. 28. Sc3 De7 Der Zug ist nur verständlich mit Aronians Plan im Hinterkopf. Der Läufer soll nach g6, wo ihm dann aber der Tf5 im Weg steht. Zieht der weg kann Weiß aber mit fxg5 seinen Angriff wiederbeleben. Von e7 aus deckt die Dame g5 und befreit den Turm von seiner Bindung an den Bauern 29. b4 ein zweifelhaftes Gegenspiel weil es Schwarz auch einen Freibauern schenkt Tf8 der zweite Schritt der vorhin beschriebenen Läuferaktivierung 30. Tb2 greift seiner Vertreibung vor Lg6 31. Ke1 Nach dem erwarteten Ld3 müsste er ohnehin weg und auf g1 stünde er den eigenen Schwerfiguren im Weg. Ld3 kein Weg zurück 32. xg5 Zumindest zweischneidig. Weiß hat keine Angst vor einem Abtausch, schlieslich hat er ja noch eine Qualität mehr. Allerdings öffnet der Zug auch die Schußlinien in die andere Richtung Sf3+ nutzt sofort die Gelegenheit aktiv einzugreifen. Der Springer behindert außerdem die Verdopplung auf der h-Linie 33. Kd1 xg5 34. Dh3 Das Schlagen auf g5 mit dem h-Bauern war ganz schön kess, aber Aronian hat ausgerechnet, dass sein König nach seinem nächsten Zug ohne Probleme flüchten kann Df6 bereitet e5 vor und gibt dem eigenen König die Fluchtroute über f7-e7 35. Kc1 räumt d1 für den Springer um gegebenenfalls f2 und e3 zu decken Lg6 Da wo der Läufer war stünde eine Dame besser 36. a4 Td8 deckt d5 damit e5 möglich wird 37. Se2 Um nach e5 den Bauern d4 zu verteidigen e5 38. Dg4 xd4 39. xd4 Te8 die offene Linie wird sofort besetzt 40. Dd7 c3 Der Turm muss ziehen und alle Felder vor dem weißen König sind unter schwarzer Kontrolle 41. Ta2 Die Umgruppierung der Figuren ist vollzogen, die e-Linie geöffnet, der weiße König ziemlich eingesperrt, aber wie kann der Angriff abgeschlossen werden ? Kommt die schwarze Dame auf die Diagonale h7-b1 ist die Partie um, doch f5 ist von der weißen Königin kontrolliert Se1!! Das hatte niemand außer Aronian gesehen. Selbst die Kommentatoren, die live vor Ort waren rieben sich die Augen und waren dann begeistert. Se1 räumt f3 für die Dame und lenkt den Turm auf e1 42. Txe1 Df4+ da auf Sxf4 ja Txe1+ und matt folgt 43. Kd1 De4 dringt ein über e3 oder b1
Kellerdrache - 24. Jul '16
Irgendwas übersehe ich immer! In der Überschrift muss es bei den römischen Ziffern natürlich X und nicht VIII heissen.
Vabanque - 24. Jul '16
Ich sehe es auch immer erst hinterher :)
So, und jetzt gucke ich mir die Partie an, und irgendwann schreibe ich dann den richtigen Kommentar dazu ;)
So, und jetzt gucke ich mir die Partie an, und irgendwann schreibe ich dann den richtigen Kommentar dazu ;)
pirc_ - 24. Jul '16
Sehr schön und nachvollziehbar kommentiert.
Zu deiner Aufzählung im Vorwort, wer die "alten" beerben könnte würde ich Giri nicht außen vor lassen. Der gute Giri war zum Zeitpunkt der Partie 17 Jahre alt und wird irgendwie ständig besser. Er scheint ein Kandidat der Zukunft zu sein. Er ist auf jeden Fall im Moment der jüngste in den Top 10.
Zu deiner Aufzählung im Vorwort, wer die "alten" beerben könnte würde ich Giri nicht außen vor lassen. Der gute Giri war zum Zeitpunkt der Partie 17 Jahre alt und wird irgendwie ständig besser. Er scheint ein Kandidat der Zukunft zu sein. Er ist auf jeden Fall im Moment der jüngste in den Top 10.
Vabanque - 24. Jul '16
Am Schluss ist noch ein kleiner Schreibfehler, es müsste wohl heißen: 'dringt ein über D3 (nicht e3) oder b1.'
Ansonsten alles sehr schön erklärt, vor allem die beiderseitigen Pläne. Und das ist ja das Wichtigste.
Etwas störend beim Lesen fand ich, dass du diesmal ziemlich oft 'man' schreibst. Aber gut, wenn es sonst nichts zu meckern gibt, meckert man halt am Schreibstil rum ;)
Aronian ist ein Spieler, der einen sehr komplizierten und interessanten Stil hat. Ich habe ja schon früher hier ein paar Partien von ihm gezeigt. Aber vor den meisten schrecke ich zurück, weil sie eben ganz abartig kompliziert sind. Dagegen ist die hier wirklich noch einfach. Aronian begibt sich oft und gerne in Stellungen, vor denen es dem 'Normalspieler' nur schaudern würde. Urwald oder Dschungel sozusagen, taktischer wie auch strategischer Natur. Und oft feuert er aus diesem Urwald heraus: Opferserien und sogar Königsjadgen kommen bei ihm vor.
Giri dagegen ist ein Spieler, mit dem ich mich noch nicht beschäftigt habe. Aber das Problem im Gegenwartsschach ist, dass sehr schnell eine unübersehbare Vielfalt vielversprechender Nachwuchsspieler auf den Plan getreten ist. Man beschäftigt sich wohl doch eher mit denen, die entweder eine markante Persönlichkeit sind oder einen markanten Stil haben - oder beides.
Ansonsten alles sehr schön erklärt, vor allem die beiderseitigen Pläne. Und das ist ja das Wichtigste.
Etwas störend beim Lesen fand ich, dass du diesmal ziemlich oft 'man' schreibst. Aber gut, wenn es sonst nichts zu meckern gibt, meckert man halt am Schreibstil rum ;)
Aronian ist ein Spieler, der einen sehr komplizierten und interessanten Stil hat. Ich habe ja schon früher hier ein paar Partien von ihm gezeigt. Aber vor den meisten schrecke ich zurück, weil sie eben ganz abartig kompliziert sind. Dagegen ist die hier wirklich noch einfach. Aronian begibt sich oft und gerne in Stellungen, vor denen es dem 'Normalspieler' nur schaudern würde. Urwald oder Dschungel sozusagen, taktischer wie auch strategischer Natur. Und oft feuert er aus diesem Urwald heraus: Opferserien und sogar Königsjadgen kommen bei ihm vor.
Giri dagegen ist ein Spieler, mit dem ich mich noch nicht beschäftigt habe. Aber das Problem im Gegenwartsschach ist, dass sehr schnell eine unübersehbare Vielfalt vielversprechender Nachwuchsspieler auf den Plan getreten ist. Man beschäftigt sich wohl doch eher mit denen, die entweder eine markante Persönlichkeit sind oder einen markanten Stil haben - oder beides.
Kellerdrache - 25. Jul '16
Das mit Aronians Stil stimmt. Als mir jemand diese Partie empfahl war ich deshalb auch skeptisch ob es mich nicht überfordert. So gesehen war ich positiv überrascht, dass dieses Beispiel in den Plänen und Drohungen eigentlich recht übersichtlich ist.
Colorado hat ja im Kommentar zur Nunn Partie geschrieben ihn würde immer interessieren wo eine Partie letztendlich gekippt ist. Ich denke Giri hat hauptsächlich deshalb verloren weil er die Situation am Königsflügel falsch eingeschätzt hat und sich nach Tf5 nicht von seinem Angriffsplan verabschiedet hat. Die Frage ist aber natürlich was er stattdessen hätte versuchen sollen. Es würde mich wirklich interessieren was die Leser dazu denken.
Colorado hat ja im Kommentar zur Nunn Partie geschrieben ihn würde immer interessieren wo eine Partie letztendlich gekippt ist. Ich denke Giri hat hauptsächlich deshalb verloren weil er die Situation am Königsflügel falsch eingeschätzt hat und sich nach Tf5 nicht von seinem Angriffsplan verabschiedet hat. Die Frage ist aber natürlich was er stattdessen hätte versuchen sollen. Es würde mich wirklich interessieren was die Leser dazu denken.
Vabanque - 27. Jul '16
Eine sehr schwierige Frage. Als Aronian seine Qualität opferte, dachte ich mir beim Nachspielen: 'Ob das wohl reichen kann?'. Aber wenige Züge später, als Weiß mit Kg2 seinen Angriff auf der h-Linie vorbereitete, dachte ich mir wiederum 'Ob das Chancen haben kann?'. Vermutlich war die Partie da bereits gekippt.
Vielleicht kann unser vermutlich bester Analytiker, C77, hier weiterhelfen.
Vielleicht kann unser vermutlich bester Analytiker, C77, hier weiterhelfen.
Colorado77 - 27. Jul '16
Ich schreibe die Tage was zu, das ist eine schwere Partie...
Vorab, Lxd6 mag ich positionell gar nicht. Das Qualleopfer ist vermutlich die beste Chance von Schwarz, das Spiel in unklare Gewässer zu steuern, jedenfalls stände er nach Lc6 stattdessen positionell wirklich schlecht.
Vorab, Lxd6 mag ich positionell gar nicht. Das Qualleopfer ist vermutlich die beste Chance von Schwarz, das Spiel in unklare Gewässer zu steuern, jedenfalls stände er nach Lc6 stattdessen positionell wirklich schlecht.
Vabanque - 27. Jul '16
Aber genau solches Schach finde ich so interessant, auch wenn ich es selber nicht kann. In positionell schlechten Stellungen solche Ideen zu haben! Da tritt Aronian in die Fußstapfen von Leuten wie Tschigorin, Marshall, Keres, Tal und auch Aljechin. Man sieht, so eine Spielweise geht auch heute noch, und sogar gegen hochklassige Gegner.