Kommentierte Spiele

Die Ungarn (I): Andras Adorjan

Kellerdrache - 14. Jul '19
Nach dem zweiten Weltkrieg beherrschten die russischen Großmeister die internationalen Turniere bis in die 70er Jahre fast uneingeschränkt. Spieler anderer Nationen wie z.B. Najdorf oder Gligoric waren Einzelkämpfer, die in ihren jeweiligen Ländern einsame Helden waren, während die Sowjetunion mit Botwinnik, Tal, Smyslov, Bronstein, Keres und Petrosjan, um nur ein paar besonders Bekannte zu nennen Stars in Serie produzierte.

Dann tauchte in den 70er Jahren in Ungarn eine ganze Generation von neuen, hochtalentierten Großmeistern auf, die ihren russischen Kollegen Schwierigkeiten machten. Auf der einen Seite forderte man sich gegenseitig (Ribli und Adorjan haben sich etliche intensive Kämpfe geliefert), auf der anderen Seite jedoch tauschte man sich aus und half gegenseitig besser zu werden.

Selbst die nachfolgende Generation der Polgars und Lekos haben von diesen Kollegen weit mehr Hilfe erfahren als von ihren eigenen Funktionären.

Andras Adorjan habe ich in der Reihe der Vergessenen hier schon einmal vorgestellt (/forum/topic.html?key=4484c84be86a41a2&sv=17) . Seinen stark taktisch geprägten Stil teilte er mit einigen seiner ungarischen Zeitgenossen wie ihr in den kommenden Folgen noch sehen werdet.

Die unten stehende Partie zeigt sehr schön seinen kompromisslosen Angriffsstil der nur eine Richtung kennt – vorwärts.

Andras Adorjan Gabor Glatt Elekes Memorial 7th | Budapest HUN | 6 | 1982.06.?? | A29 | 1:0
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. c4 e5 2. Sc3 Sf6 3. Sf3 Sc6 ein sogenanntes englisches Vierspringerspiel 4. g3 Weiß legt sich erst einmal nicht fest wie er das Zentrum besetzen will Lb4 Dieser Zug ist Theorie. Trotzdem verstehe ich ihn nicht wirklich. Mit dem d-Bauern noch fest auf seinem Ursprungsfeld fesselt der Läufer schlieslich nichts und es befindet sich auch kein Ziel auf e4, dass nach Tausch auf c3 schwach werden könnte 5. Sd5 Ld6 ein häßliches Feld für den Läufer, aber was waren denn bessere Alternativen ? Auf a5 oder c5 bildet er jeweils ein Angriffsziel für vormarschierende Damenflügelbauern während er auf e7 einfach genommen werden kann. Schwarz plant wohl eine Umgruppierung mit Se7,c6 und eventuell noch Lc7, nebst d5 6. Lg2 Sxd5 7. xd5 Se7 8. e4 c6 der d5 ist zweimal angegiffen und nur einmal gedeckt. Schlagen auf c6 hilft jetzt der schwarzen Entwicklung. Der Bauer könnte mit Db3 noch einmal gedeckt werden, doch Adorjan entscheidet sich Entwicklung vor Material zu stellen. Der Bauer wird ganz einfach im Stich gelassen 9. O-O xd5 10. d4 gibt auch dem schwarzfeldrigen Läufer eine schöne Diagonale. Für den Preis eines einzelnen Bauern hat Weiß eine perfekte Ausgangsbasis für sein Angriffsspiel geschaffen. xe4
xd4 den anderen Bauern zu nehmen ist nicht unbedingt besser 11. Dxd4 xe4 12. Sg5 Sf5 13. Dxe4+ Se7 14. Te1 Schwarz kann nicht rochieren, da dann h7 fallen würde h6 15. Sxf7 Kxf7 16. Dc4+ Kf8 17. Te3 Sf5 18. Tf3 g6 19. g4 die lange Variante ist natürlich nicht zwingend, zeigt aber die Schwierigkeiten auf die auf Schwarz wegen der zurückgebliebenen Entwicklung zukommen können
11. Sxe5 Dc7 die Dame steht hier selber leider auch in der Schußlinie 12. Lf4 f6 selbstverständlich möchte man den Zentralspringer nicht da stehen lassen 13. Tc1 Db8 Adorjan hat jetzt ein Problem. Der Springer ist angegriffen, zieht er verliert er auf f4 einen Bauern und öffnet seine eigene Königsstellung 14. Lxe4 Weiß opfert lieber eine Figur. Auf den ersten Blick ist die Kompensation kaum zu sehen. Sie besteht in der deutlich besseren Entwicklung und dem in der Mitte steckengebliebenen schwarzen König xe5 15. xe5 Lc7
Lxe5 der Bauer ist ja zweimal angegriffen und nur einmal gedeckt, doch das Mahl ist vergiftet 16. Dh5+ die unsichere Stellung des schwarzen Königs wirkt sich das erste Mal aus Sg6 17. Lxg6+
16. Dh5+ ohne Doppeldrohung wie in der vorigen Variante sieht dieser Zug nicht besonders stark aus g6 17. Dh6 Lxg6 geht nicht, da Schwarz ja mit dem Springer e7 zurück nehmen kann Lxe5 Es gibt kaum Alternativen, doch der Zug sieht ja auch gut aus. Schwarz hat eine volle Figur mehr. Adorjans Fortsetzung ist nur zu sehen wenn man zwei Dinge im Auge behält: Die Dame muss den Le5 gedeckt halten und der Se7 ist seinerseits an die Deckung von g6 gebunden
Sf5 18. Lxf5 xf5 19. Dh5+ kann es ja auch nicht sein Kf8 20. Lh6+ Ke7 21. Dxf5 d6 22. Df6+
18. Txc8+ eine Figur im Minus gibt Weiß noch die Qualität dazu. Glatt mag das Opfer auf dem Schirm gehabt haben hat aber vermutlich den kommenden Angriff unterschätzt Sxc8 18...Qxc8 19 Bxe5 19. Lxg6+ wenn man bereits einen Turm weniger hat kommt es auf eine weitere Leichtfigur ja auch nicht mehr an xg6 20. Dxg6+ Kd8 auch die anderen Möglichkeiten geben keine Sicherheit
Kf8 21. Df5+ gewinnt ordentlich Material Ke7 22. Lxe5 mit Angriff auf Dame und Turm
Ke7 21. Te1 d6 22. Dg7+ Ke6 23. Dxh8 Se7 24. Dh6+ Kf7 25. Lg5 mit der Idee f4. Das ist eine von Adorjan selbst angegebene Variante
21. Dg5+ und der Le5 fallt Se7 verschafft der Dame ein Ausweichfeld 22. Lxe5 Tg8 sonst verliert man mindestens noch einen Turm 23. Df4 Dc8 24. Tc1
24. Tc1 Sc6 25. Df6+ Ke8 26. Ld6
PGN anzeigen
[Event "Elekes Memorial 7th"]
[Site "Budapest HUN"]
[Date "1982.06.??"]
[Round "6"]
[White "Andras Adorjan"]
[Black "Gabor Glatt"]
[Result "1-0"]
[ECO "A29"]
[PlyCount "47"]
[EventDate "1982.??.??"]

1. c4 e5 2. Nc3 Nf6 3. Nf3 Nc6 {ein sogenanntes englisches Vierspringerspiel}
4. g3 {Weiß legt sich erst einmal nicht fest wie er das Zentrum besetzen will}
Bb4 {Dieser Zug ist Theorie. Trotzdem verstehe ich ihn nicht wirklich. Mit dem
d-Bauern noch fest auf seinem Ursprungsfeld fesselt der Läufer schlieslich
nichts und es befindet sich auch kein Ziel auf e4, dass nach Tausch auf c3
schwach werden könnte} 5. Nd5 Bd6 {ein häßliches Feld für den Läufer, aber was
waren denn bessere Alternativen ? Auf a5 oder c5 bildet er jeweils ein
Angriffsziel für vormarschierende Damenflügelbauern während er auf e7 einfach
genommen werden kann. Schwarz plant wohl eine Umgruppierung mit Se7,c6 und
eventuell noch Lc7, nebst d5} 6. Bg2 Nxd5 7. cxd5 Ne7 8. e4 c6 {der d5 ist zweimal angegiffen und nur einmal gedeckt. Schlagen auf c6 hilft jetzt der
schwarzen Entwicklung. Der Bauer könnte mit Db3 noch einmal gedeckt werden,
doch Adorjan entscheidet sich Entwicklung vor Material zu stellen. Der Bauer
wird ganz einfach im Stich gelassen} 9. O-O cxd5 10. d4 {gibt auch dem
schwarzfeldrigen Läufer eine schöne Diagonale. Für den Preis eines einzelnen
Bauern hat Weiß eine perfekte Ausgangsbasis für sein Angriffsspiel geschaffen.}
dxe4 (10... exd4 {den anderen Bauern zu nehmen ist nicht unbedingt besser} 11.
Qxd4 dxe4 12. Ng5 Nf5 13. Qxe4+ Ne7 14. Re1 {
Schwarz kann nicht rochieren, da dann h7 fallen würde} h6 15. Nxf7 Kxf7 16.
Qc4+ Kf8 17. Re3 Nf5 18. Rf3 g6 19. g4 {die lange Variante ist natürlich nicht
zwingend, zeigt aber die Schwierigkeiten auf die auf Schwarz wegen der
zurückgebliebenen Entwicklung zukommen können}) 11. Nxe5 Qc7 {
die Dame steht hier selber leider auch in der Schußlinie} 12. Bf4 f6 {
selbstverständlich möchte man den Zentralspringer nicht da stehen lassen} 13.
Rc1 Qb8 {Adorjan hat jetzt ein Problem. Der Springer ist angegriffen, zieht er
verliert er auf f4 einen Bauern und öffnet seine eigene Königsstellung} 14.
Bxe4 {Weiß opfert lieber eine Figur. Auf den ersten Blick ist die Kompensation
kaum zu sehen. Sie besteht in der deutlich besseren Entwicklung und dem in der
Mitte steckengebliebenen schwarzen König} fxe5 15. dxe5 Bc7 (15... Bxe5 {
der Bauer ist ja zweimal angegriffen und nur einmal gedeckt, doch das Mahl ist
vergiftet} 16. Qh5+ {
die unsichere Stellung des schwarzen Königs wirkt sich das erste Mal aus} Ng6
17. Bxg6+) 16. Qh5+ {ohne Doppeldrohung wie in der vorigen Variante sieht
dieser Zug nicht besonders stark aus} g6 17. Qh6 {
Lxg6 geht nicht, da Schwarz ja mit dem Springer e7 zurück nehmen kann} Bxe5 {
Es gibt kaum Alternativen, doch der Zug sieht ja auch gut aus. Schwarz hat
eine volle Figur mehr. Adorjans Fortsetzung ist nur zu sehen wenn man zwei
Dinge im Auge behält: Die Dame muss den Le5 gedeckt halten und der Se7 ist
seinerseits an die Deckung von g6 gebunden} (17... Nf5 18. Bxf5 gxf5 19. Qh5+ {
kann es ja auch nicht sein} Kf8 20. Bh6+ Ke7 21. Qxf5 d6 22. Qf6+) 18. Rxc8+ {
eine Figur im Minus gibt Weiß noch die Qualität dazu. Glatt mag das Opfer auf
dem Schirm gehabt haben hat aber vermutlich den kommenden Angriff unterschätzt}
Nxc8 {18...Qxc8 19 Bxe5} 19. Bxg6+ {wenn man bereits einen Turm weniger hat
kommt es auf eine weitere Leichtfigur ja auch nicht mehr an} hxg6 20. Qxg6+ Kd8
{auch die anderen Möglichkeiten geben keine Sicherheit} (20... Kf8 21. Qf5+ {
gewinnt ordentlich Material} Ke7 22. Bxe5 {mit Angriff auf Dame und Turm}) (
20... Ke7 21. Re1 d6 22. Qg7+ Ke6 23. Qxh8 Ne7 24. Qh6+ Kf7 25. Bg5 {
mit der Idee f4. Das ist eine von Adorjan selbst angegebene Variante}) 21. Qg5+
{und der Le5 fallt} Ne7 {verschafft der Dame ein Ausweichfeld} 22. Bxe5 Rg8 {
sonst verliert man mindestens noch einen Turm} 23. Qf4 Qc8 24. Rc1 (24. Rc1 Nc6
25. Qf6+ Ke8 26. Bd6) 1-0
Schlaffi - 14. Jul '19
Super. Einfach nur gut! Danke!
freak40 - 14. Jul '19
Erst mal vielen Dank

Eine wirklich tolle Partie!
Vor allen Dingen ist es eine aus der Praecomputerzeit...sie beinhaltet also reine menschliche Intelligenz, Intuition und guter Vorbereitung.
Die schwarze Eröffnungsbehandlung geht völlig schief....
Vabanque - 14. Jul '19
Beim Nachspielen dieser Partie kam ich mir geistig total durchgeschüttelt vor :-)

Diese Partie habe ich ganz bestimmt noch nie gesehen, aber Adorjan war auch kein Spieler, den ich bisher besonders beachtet hätte - vielleicht zu Unrecht, wenn er noch mehr Partien wie diese auf 'Lager' hatte ;-)

Er scheint ein gutes Gespür für Angriffschancen gegen Material gehabt zu haben - denn durchgerechnet kann das unmöglich alles gewesen sein, dazu sind die Möglichkeiten viel zu verwirrend.

Und verwirrt bin ich jetzt auch :-)
Kellerdrache - 15. Jul '19
Die Partie gibt Adorjans Stil schon ganz gut wieder. Angriff um jeden Preis. Angegriffene Bauern werden zu Gunsten einer aktiven Position nicht selten ungedeckt gelassen, aber auch positionelle Konzessionen gibt es häufiger zu sehen. Das führt zu schönen Siegen aber auch zur ein oder anderen ebenso spektakulären Niederlage.
Die Spieler der Reihe sind übrigens nicht in chronologischer, sondern alphabetischer sortiert. Es folgen also Portisch, Ribli und Sax. Polgar und Leko kommen als deren Erben im Nachgang.
Oli1970 - 22. Jul '19
Schöne, geradlinige Partie ohne Schnörkel und dadurch recht einfach nachzuvollziehen. Wie Kellerdrache schrieb: Kompromisslos vorwärts gespielt durch Adorjan. Seine Züge sehen bestechend einfach aus, und trotzdem - oder deshalb - beherrscht er nach kurzer Zeit das Spiel.

Glatt ist einfach übel aus der Eröffnung herausgekommen. Auf 5... Lb4 kann normale Entwicklung folgen und Schwarz gelänge in eine spielbare Position. Der Gedanke hinter dem Zug ist, dass Schwarz e5-e4 vorbereitet, nötigenfalls durch Schlagen des Sc3. Eine weiße Standardantwort wäre 6. Lg2 und damit die Fortsetzung der Entwicklung. Vermutlich hat Glatt auch damit gerechnet. Adorjans Zug Sd5 schwächt die Kontrolle über e4, konsequentes e5-e4 wäre die beste Fortsetzung für Glatt gewesen. Der Rückzug des Läufers ist einfach nur verschwendet.

Adorjans 16. Dh5+ ist ein Hammer, Schwarz ist praktisch schon erledigt. Auf Kd8 kann Weiß weiter Druck geben, z. B. durch Verdoppelung der Türme auf der c-Linie, aber sogar ein Turmopfer auf mit Txc7 könnte er sich vermutlich leisten. Auf 16... Kf1 kommt 17. e6 und es droht Matt oder Damenverlust nach 17... dxe6 18. Lxc7. So blieb g6 zur Verteidigung, ohne wirklich die Gefahr abzuwehren. Als noch stärkere Fortsetzung darauf wäre Dh4 in Frage gekommen.

Tolles Spiel von Adorjan, dem Glatt allerdings auch wenig entgegenzusetzen hatte. Danke fürs Zeigen!
Kellerdrache - 23. Jul '19
@Oli1970: Danke für deine Erläuterungen zur schwarzen Eröffnungsvariante. Gefallen tut sie mir zwar immer noch nicht, aber jetzt weiß ich wenigstens welcher Gedanke dahinter steckt. Wenn also die Aufgabe des Läuferpaars, z.B mit Lxc3 ohnehin Teil des Plans ist macht ein Zug wie 5...Ld6 noch weniger Sinn als ich dachte ;-)).
Glatt hat sich in der Eröffnung verirrt und Adorjan hat ihm keine Gelegenheit gegeben wieder hineinzufinden.
Oli1970 - 23. Jul '19
Der Gedanke kam mir auch, dass Glatt sich „verlaufen“ hat. Irgendwie beruhigend, dass auch solche Spieler mal nicht mehr weiter wissen.