Kommentierte Spiele

Glanzpartien unbekannter Spieler (XXVII)

Vabanque - 28. Jan '15
Der Verlierer der folgenden Partie, Vladimir Alatortsev (1909-1987), war seinerzeit ein berühmter Meister, der achtbare Erfolge in UdSSR-Meisterschaften erzielte. Über den Sieger, Nikolay Kopaev (1914-1978), ist dagegen so gut wie gar nichts bekannt (außer dass er wichtige Beiträge zur Theorie der Turmendspiele geliefert haben soll). In der vorliegenden Partie zaubert er aber originelle Stellungsbilder aufs Brett, die in ein spektakuläres Damenopfer münden.

Nikolay Antonovich Kopaev Vladimir Alatortsev U.S.S.R. | U.S.S.R. | 1938 | 1:0
8
7
6
5
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3
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a
1
b
c
d
e
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g
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1. e4 c5 2. Sf3 d6 3. d4 Sf6 4. Sc3 xd4 5. Sxd4 a6 6. Le2 e6 7. O-O Dc7 8. a4 Weiß entscheidet sich dafür, b7-b5 nicht zuzulassen. b6 Also spielt Schwarz eine 'Igel-Aufstellung', die aber damals noch nicht so hieß. 9. f4 Sbd7 10. Lf3 Lb7 11. g4 Heute wäre so ein Zug in derartigen Stellungen völlig normal. Damals muss es aber ziemlich gewagt ausgesehen haben, die Bauern vor dem eigenen König so weit vorzuziehen. Sc5 Schwarz greift den weißen e-Bauern an. 12. De2 Le7 13. Dg2?! Nun wäre b2-b4 doch der konsequente Zug gewesen. Vermutlich hielt es Weiß für stärker, damit noch bis zur schwarzen Rochade zu warten. O-O 14. g5 Se8 Schwarz spielt nicht Sfd7, weil er dem Sc5 das Feld d7 zum Rückzug nach b2-b4 frei halten möchte. Nach 14... Sfd7 wäre das sofortige 15. b4 aber noch nicht gut wegen Sb3! (b2-b4 lässt den Sc3 ja ungedeckt). Weiß hätte daher auf Sfd7 besser zunächst Ld2 gespielt und damit b4 gedroht. 15. Le3 e5 Da eine passive Verteidigung in solchen Stellungen ziemlich aussichtslos wäre, sucht Schwarz Gegenspiel im Zentrum und Verwicklungen. Zunächst gelingt es ihm auch ziemlich gut, das Spiel in der Balance zu halten. 16. Sde2 Weiß verzichtet auf das offensichtliche Sf5, vermutlich weil er nach exf4 mit dem Springer auf f4 wiedernehmen will, zwecks Kontrolle des Feldes d5. Lc6 Deswegen versucht Schwarz einen anderen Plan, um Gegenspiel zu erhalten. Er möchte den weißen Bauern a4 weiter angreifen. 17. f5 Da Schwarz auf f4 nicht genommen hat, wird die weiße Bauernformation jetzt sehr drohend. Aber dass die Bauern irgendwann auf f6 und g6 stehen werden, kann man bei der augenblicklichen Situation auf dem Brett sicher noch nicht erahnen. Ld8 Der Läufer weicht einem zu erwartenden f5-f6 schon im Voraus aus. 18. Dg4 Der Sinn dieses Zuges ist mir nicht ganz klar. Vielleicht wollte Weiß mit Lg2 und Tf3 fortfahren, um den Turm in den Angriff einzubinden? Jedenfalls kommt er durch den folgenden schwarzen Gegenschlag nicht dazu, seinen wie auch immer gearteten Plan auszuführen. Die Partie wird jetzt sehr schnell äußerst turbulent. Dd7 Nun hängt also a4; man sieht, wozu Schwarz Lc6 gespielt hat. 19. b3 b5 Hat Schwarz übersehen, dass Weiß danach einen Bauern gewinnen kann. Oder hat er weiter gerechnet als Weiß und erkannt, dass er den Bauern bei komplizierter Stellung zurückerobert? Wir wissen es nicht. 20. xb5 xb5 21. Txa8 Lxa8 22. Lxc5 Weiß lässt sich auf den erwähnten Bauerngewinn ein, erlaubt Schwarz damit aber bald ganz erhebliche Gegenchancen. xc5 23. Td1 Die schwarze Dame kann nun nicht zugleich d8 und b5 schützen. Sd6 24. Sxb5?! Das war natürlich sehr verlockend, aber die positionelle Fortsetzung Sd5 wäre auf alle Fälle sicherer gewesen. Dxb5 25. Txd6 c4! Eben. Schwarz droht jetzt Dc5+ mit Turmgewinn! 26. Kg2 Kh8?! Nun schätzt Schwarz offenbar die Rückeroberung seines Bauern als zu gefährlich ein. Der Königszug (der vermutlich weißes f5-f6 entschärfen soll) verbessert allerdings seine Situation nicht und ist bloß ein Tempoverlust. 27. Dh5 Droht recht hübsch Dxf7!, bringt aber sonst eigentlich auch nichts, da Schwarz die Drohung mit Tempo abwehren kann. Le7 28. Td1 xb3 29. xb3 Dxb3 Jetzt hat er ihn also letztlich doch geschnappt. Besser wäre aber die Einschaltung von 29... g6 gewesen, da Weiß das vielleicht darauf befürchtete 30. Dh6 wegen Lxe4! (nach 31. Lxe4 hinge der Se2 mit Schach) gar nicht spielen könnte. Nach dem Textzug kommt Weiß wieder ans Ruder. 30. Td7 Ein sehr eigenartiges Stellungsbild: Alle Bauern des Damenflügels sind verschwunden, die ganze linke Bretthälfte ist nahezu leergefegt, während auf der rechten Bretthälfte ein wahres Gedränge herrscht! Deckt nun Schwarz den Le7 oder zieht er ihn weg? Ld8?! Und er greift daneben. Schlecht wäre allerdings auch die Deckung durch 30... Te8 gewesen wegen 31. g6 fxg6 (nach h6 folgt gxf7) 32. fxg6 h6 33. Dxe5. Aber mit 30... Db4! (deckt e7 und greift zugleich e4 an) hätte Schwarz sich noch halten können. Auf 31. g6 spielt er dann sofort h6 (ohne Zwischentausch auf g6), und auf 31. f6 gxf6 32. gxf6 Lxf5 33. Txf7 Txf7 34. Dxf7 De7 ist die Gefahr auch gebannt. 31. f6 De6? 'Der letzte Fehler', wie die Kommentatoren in solchen Fällen zu schreiben pflegen. Dabei sieht der Zug gar nicht schlecht aus; er greift den Td7 an und bringt damit die Dame scheinbar mit Tempo zur Verteidigung heran (32. Lg4 geht ja nicht wegen Lxe4+), aber die Situation ist nun bereits so, dass Weiß sich um so etwas wie angegriffene Türme nicht mehr zu kümmern braucht. 32. g6! Zwei weiße Bauern auf f6 und g6 direkt vor der Haustür des schwarzen Königs! Das sieht man nicht alle Tage. Es droht Matt auf h7, und Schwarz kann den vorwitzigen Bauern nicht mit fxg6 schlagen, da er damit dem weißen Turm die 7. Reihe öffnen würde, so dass 33. fxg7+ sofort tödlich wäre. h6 Also bleibt nur dieser Zug. 33. Dxh6+! Ein spektakuläres, aber leicht durchzurechnendes Damenopfer sorgt für den angemessenen Schlusseffekt. xh6 34. g7+ Kg8 35. gf8=Q+ Kxf8 36. Txd8+ Da der Bauer f6 dem schwarzen König die Luft abschneidet, muss Schwarz die Dame zurückgeben und bleibt mit einer Minusfigur im Endspiel. De8 37. Txe8+ Aufgegeben. Zwar keine Partie aus einem Guss, aber jedenfalls eine sehr unterhaltsame.
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[Event "U.S.S.R."]
[Site "U.S.S.R."]
[Date "1938.??.??"]
[EventDate "?"]
[Round "?"]
[Result "1-0"]
[White "Nikolay Antonovich Kopaev"]
[Black

"Vladimir Alatortsev"]

1. e4 c5 2. Nf3 d6 3. d4 Nf6 4. Nc3 cxd4 5. Nxd4 a6 6. Be2 e6 7. O-O

Qc7 8. a4 {Weiß entscheidet sich dafür, b7-b5 nicht zuzulassen.}
b6 {Also spielt Schwarz eine 'Igel-Aufstellung', die aber damals noch

nicht so hieß.} 9. f4 Nbd7 10. Bf3 Bb7 11. g4 {Heute wäre so ein Zug in

derartigen Stellungen völlig normal. Damals muss es aber ziemlich gewagt

ausgesehen haben, die Bauern vor dem eigenen König so weit vorzuziehen.}

Nc5 {Schwarz greift den weißen e-Bauern an.} 12. Qe2 Be7 13. Qg2?! {Nun

wäre b2-b4 doch der konsequente Zug gewesen. Vermutlich hielt es Weiß für

stärker, damit noch bis zur schwarzen Rochade zu warten.} O-O 14. g5 Ne8

{Schwarz spielt nicht Sfd7, weil er dem Sc5 das Feld d7 zum Rückzug nach

b2-b4 frei halten möchte. Nach 14... Sfd7 wäre das sofortige 15. b4 aber

noch nicht gut wegen Sb3! (b2-b4 lässt den Sc3 ja ungedeckt). Weiß hätte

daher auf Sfd7 besser zunächst Ld2 gespielt und damit b4 gedroht.} 15. Be3
e5 {Da eine passive Verteidigung in solchen Stellungen ziemlich

aussichtslos wäre, sucht Schwarz Gegenspiel im Zentrum und Verwicklungen.

Zunächst gelingt es ihm auch ziemlich gut, das Spiel in der Balance zu

halten.} 16. Nde2 {Weiß verzichtet auf das offensichtliche Sf5, vermutlich

weil er nach exf4 mit dem Springer auf f4 wiedernehmen will, zwecks

Kontrolle des Feldes d5.} Bc6 {Deswegen versucht Schwarz einen anderen

Plan, um Gegenspiel zu erhalten. Er möchte den weißen Bauern a4 weiter

angreifen.} 17. f5 {Da Schwarz auf f4 nicht genommen hat, wird die weiße

Bauernformation jetzt sehr drohend. Aber dass die Bauern irgendwann auf f6

und g6 stehen werden, kann man bei der augenblicklichen Situation auf dem

Brett sicher noch nicht erahnen.} Bd8 {Der Läufer weicht einem zu

erwartenden f5-f6 schon im Voraus aus.} 18. Qg4 {Der Sinn dieses Zuges ist

mir nicht ganz klar. Vielleicht wollte Weiß mit Lg2 und Tf3 fortfahren, um

den Turm in den Angriff einzubinden? Jedenfalls kommt er durch den

folgenden schwarzen Gegenschlag nicht dazu, seinen wie auch immer

gearteten Plan auszuführen. Die Partie wird jetzt sehr schnell äußerst

turbulent.} Qd7 {Nun hängt also a4; man sieht, wozu Schwarz Lc6 gespielt

hat.} 19. b3 b5 {Hat Schwarz übersehen, dass Weiß danach einen Bauern

gewinnen kann. Oder hat er weiter gerechnet als Weiß und erkannt, dass er

den Bauern bei komplizierter Stellung zurückerobert? Wir wissen es nicht.}

20. axb5 axb5 21. Rxa8 Bxa8
22. Bxc5 {Weiß lässt sich auf den erwähnten Bauerngewinn ein, erlaubt

Schwarz damit aber bald ganz erhebliche Gegenchancen.} dxc5 23. Rd1 {Die

schwarze Dame kann nun nicht zugleich d8 und b5 schützen.} Nd6 24. Nxb5?!

{Das war natürlich sehr verlockend, aber die positionelle Fortsetzung Sd5

wäre auf alle Fälle sicherer gewesen.} Qxb5 25. Rxd6 c4! {Eben. Schwarz

droht jetzt Dc5+ mit Turmgewinn!} 26. Kg2 Kh8?! {Nun schätzt Schwarz

offenbar die Rückeroberung seines Bauern als zu gefährlich ein. Der

Königszug (der vermutlich weißes f5-f6 entschärfen soll) verbessert

allerdings seine Situation nicht und ist bloß ein Tempoverlust.} 27. Qh5

{Droht recht hübsch Dxf7!, bringt aber sonst eigentlich auch nichts, da

Schwarz die Drohung mit Tempo abwehren kann.} Be7 28.
Rd1 cxb3 29. cxb3 Qxb3 {Jetzt hat er ihn also letztlich doch geschnappt.

Besser wäre aber die Einschaltung von 29... g6 gewesen, da Weiß das

vielleicht darauf befürchtete 30. Dh6 wegen Lxe4! (nach 31. Lxe4 hinge der

Se2 mit Schach) gar nicht spielen könnte. Nach dem Textzug kommt Weiß

wieder ans Ruder.} 30. Rd7 {Ein sehr eigenartiges Stellungsbild: Alle

Bauern des Damenflügels sind verschwunden, die ganze linke Bretthälfte ist

nahezu leergefegt, während auf der rechten Bretthälfte ein wahres Gedränge

herrscht! Deckt nun Schwarz den Le7 oder zieht er ihn weg?} Bd8?! {Und er

greift daneben. Schlecht wäre allerdings auch die Deckung durch 30... Te8

gewesen wegen 31. g6 fxg6 (nach h6 folgt gxf7) 32. fxg6 h6 33. Dxe5. Aber

mit 30... Db4! (deckt e7 und greift zugleich e4 an) hätte Schwarz sich

noch halten können. Auf 31. g6 spielt er dann sofort h6 (ohne

Zwischentausch auf g6), und auf 31. f6 gxf6 32. gxf6 Lxf5 33. Txf7 Txf7

34. Dxf7 De7 ist die Gefahr auch gebannt.} 31. f6 Qe6? {'Der letzte

Fehler', wie die Kommentatoren in solchen Fällen zu schreiben pflegen.

Dabei sieht der Zug gar nicht schlecht aus; er greift den Td7 an und

bringt damit die Dame scheinbar mit Tempo zur Verteidigung heran (32. Lg4

geht ja nicht wegen Lxe4+), aber die Situation ist nun bereits so, dass

Weiß sich um so etwas wie angegriffene Türme nicht mehr zu kümmern

braucht.} 32. g6! {Zwei weiße Bauern auf f6 und g6 direkt vor der Haustür

des schwarzen Königs! Das sieht man nicht alle Tage. Es droht Matt auf h7,

und Schwarz kann den vorwitzigen Bauern nicht mit fxg6 schlagen, da er

damit dem weißen Turm die 7. Reihe öffnen würde, so dass 33. fxg7+ sofort

tödlich wäre.} h6 {Also bleibt nur dieser Zug.} 33. Qxh6+! {Ein

spektakuläres, aber leicht durchzurechnendes

Damenopfer sorgt für den angemessenen Schlusseffekt.} gxh6 34. g7+
Kg8 35. gxf8=Q+ Kxf8 36. Rxd8+ {Da der Bauer f6 dem schwarzen König die

Luft abschneidet, muss Schwarz die Dame zurückgeben und bleibt mit einer

Minusfigur im Endspiel.} Qe8 37. Rxe8+ {Aufgegeben. Zwar keine Partie aus

einem Guss, aber jedenfalls eine sehr unterhaltsame.} 1-0
LucidNonsense - 29. Jan '15
Schöne Partie, danke.
Halt ne echte Kampfpartie, wo einiges passiert, was bei heutigen Supergroßmeistern unter der Decke bleibt, weil beide das sehen und verhindern (ok, Springergabeln bei Carlsen-Anand mal ausgenommen). Und gerade deswegen nicht nur schön, sondern auch lehrreich. Nachspielen hat Spaß gemacht. und ich werd' mal sehen, dass ich auch hier mal was reinstelle (wird wahrscheinlich nicht an Dein Niveau rankommen, aber das schreckt mich dann auch nicht ab, wenn's der allgemeinen unterhaltung dient).
Hasenrat - 29. Jan '15
Gefällt mir auch besonders durch das außergewöhnliche Stellungsbild: einmal das Spiel auf nur einer Hälfte, dann die unerschrockene Bauernwalze. Ich glaub, von so etwas kommt der sprichwörtliche Ausdruck, einen Gegner zusammenzuschieben ... :-D
Kellerdrache - 29. Jan '15
Vor allem schön weil der Unterlegene fleißig mitgekämpft hat. Das finde ich immer wesentlich interessanter als Partien wo der Verlierer nach Strich und Faden verdroschen wird.

Bei Partien die so auf Messers Schneide stehen wie hier reicht eine kleine Ungenauigkeit um die Stellung über den Klippenrand gehen zu lassen.
positiva - 31. Jan '15
vielen Dank, Vabanque. Immer wieder freue ich mich an Deinen spannenden Spielen. Und dieses hier finde ich ganz speziell... dieses Königinnenopfer! wirklich genial.
Vabanque - 31. Jan '15
Danke für Eure erfreulichen Rückmeldungen, die mich zur Weiterführung dieser Rubrik ermuntern.

Freilich wäre es schon begrüßenswert, wenn andere auch solche Partien mit Kommentaren reinstellen würden - ob eigene, fremde oder Großmeisterpartien oder historische Partien, ist dabei völlig gleichgültig. Nur bitte keine langweiligen Partien - wobei das natürlich immer subjektiv ist ... bei manchen Partien habe ich mich auch schon gefragt, wie die jemals in ein Schachbuch geraten konnten ... beim Nachspielen bin ich schier eingepennt ... das bringt mich auf den Gedanken einer neuen Serie: 'Die langweiligsten Partien der Schachgeschichte' :D
Kellerdrache - 02. Feb '15
Dann bekämst Du wenigstens auch mal ein Minus ;-))
Vabanque - 02. Feb '15
Sowie ich das erste Minus für einen Schachbeitrag kriege, höre ich auf ;)
Hasenrat - 02. Feb '15
Das erste Minus bekommt von mir die Aufhördrohung! :-)