Kommentierte Spiele
Aktuelles Spitzenschach (II): Carlsen-Karjakin 15.6.17
Vabanque - 16. Jun '17
Zum ersten Mal kommentiere ich in diesem Forum eine Partie, die erst am Vortag gespielt worden ist. Deshalb bitte ich mir auch die Mängel und Lücken in der Kommentierung nachzusehen. Aber ich fand diesen ersten Sieg Carlsens in dem ultrastark besetzten Altibox Norway Turnier so faszinierend, dass es mich gedrängt hat, ihn euch hier umgehend zu präsentieren. Der vielleicht sogar noch faszinierendere Sieg von Aronian gegen Carlsen wird demnächst auch noch hier zu sehen sein - entweder von mir oder von einem Kollegen kommentiert.
Die Partie zeigt wieder einmal in sehr anschaulicher Weise, dass man auf sehr hohem Niveau gegen einen gleichstarken Gegner nur gewinnen kann, indem man Risiken eingeht. Vereinfacht gesagt: man muss dem Gegner Vorteile anbieten, um zu siegen! Carlsen bietet hier in relativ lebloser Stellung einen Bauern an, dann noch einen zweiten, und überlässt Karjakin damit letztlich seinen gesamten Damenflügel. Dafür handelt er sich Chancen am Königsflügel ein, die aber zunächst sehr vage scheinen und auch lange Zeit noch keine konkrete Gestalt annehmen. Angriff und Verteidigung scheinen sich perfekt die Waage zu halten, bis Karjakin die Nerven verliert und fehlgreift. Und wie immer, wenn auf so hohem Niveau so etwas passiert, ist die Partie danach sehr schnell zu Ende.































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Die Partie zeigt wieder einmal in sehr anschaulicher Weise, dass man auf sehr hohem Niveau gegen einen gleichstarken Gegner nur gewinnen kann, indem man Risiken eingeht. Vereinfacht gesagt: man muss dem Gegner Vorteile anbieten, um zu siegen! Carlsen bietet hier in relativ lebloser Stellung einen Bauern an, dann noch einen zweiten, und überlässt Karjakin damit letztlich seinen gesamten Damenflügel. Dafür handelt er sich Chancen am Königsflügel ein, die aber zunächst sehr vage scheinen und auch lange Zeit noch keine konkrete Gestalt annehmen. Angriff und Verteidigung scheinen sich perfekt die Waage zu halten, bis Karjakin die Nerven verliert und fehlgreift. Und wie immer, wenn auf so hohem Niveau so etwas passiert, ist die Partie danach sehr schnell zu Ende.
Magnus Carlsen Sergey Karjakin Altibox Norway | Stavanger NOR | 8.2 | 2017.06.15 | E48 | 1:0
8








7








6
5
4
3
2








a
1

b

c

d

e

f

g

h

1. d4 Sf6 2. c4 e6 3. Sc3 Lb4 4. e3 O-O 5. Ld3 d5 6. xd5 xd5 7. Se2 Te8 8. Ld2 Lf8 9. O-O b6 10. Tc1 c5 11. Sf4 Lb7 12. Df3 Sa6 13. Tfd1 xd4 14. xd4 Sc7 15. Lc2 Ld6 16. Le3 Se4 17. La4 Te7 18. Lb3 Dd7 Nach einer positionellen Eröffnung und einer Manövrierungsphase tut sich nun allmählich etwas auf dem Brett. Weiß kann sich nicht gut auf d5 bedienen, da der schwarze Läuferabzug Ld6xh2+ am Ende den Bauern günstig zurückgewinnen würde. 19. h3 Aber nun droht der Bauerngewinn. Sxc3 20. xc3
20. Txc3 kam ebenfalls in Betracht. Carlsen zieht es vor, sich des Isolani auf d4 zu entledigen. Die Rückständigkeit des Bauern c3 wird Schwarz ja kaum ausnutzen können.
Lc6 21. Sh5 Carlsen bringt seine Figuren gegen den schwarzen Königsflügel in Stellung. Te6 Nun kann der Turm für Verteidigung und Gegenangriff bei Gelegenheit nach g6 gebracht werden. 22. Lc2 La4 Erzwingt den Tausch des potenziell gefährlichen Lc2. 23. c4!? Ein hochinteressantes Bauernopfer, um den Angriff nicht versanden zu lassen. xc4 24. d5 Dieser Zug, gefolgt von eventuellem Ld4, war die Idee des Bauernopfers. Tg6 25. Ld4 Lxc2 26. Txc2 Da4 Hält den Gambitbauern mit Angriff auf den Turm. 27. Tcc1!? Carlsen bietet einen zweiten Bauern an und gibt damit seinen Damenflügel vollkommen auf. Dxa2 Karjakin greift zu; er hat nun drei verbundene Freibauern am Damenflügel! Wird Carlsens Angriff am Königsflügel stark genug sein, dies zu kompensieren? 28. Sxg7! Ein weiteres Opfer ist Teil des brillanten weißen Gesamtkonzepts. Txg7 29. Lxg7 Kxg7 30. Dg4+ Kf8 31. Dh4 Bei Betrachtung der Stellung fällt ins Auge, dass die schwarzen Figuren nicht gerade so stehen, dass sie ihrem einsam herumstehenden Gebieter groß werden helfen können. Db2 Karjakin führt die Dame sinnvollerweise in die Gesellschaft ihres Herrn Gemahl zurück. 32. Txc4 Nun könnte auf Dg7 aber Tg4 geschehen. Se8 Also bereitet Schwarz Df6 vor; außerdem begibt sich der Springer in eine sinnvolle Verteidigungsposition. 33. Te1 Man kann hier eigentlich von einem positionell geführten Angriff sprechen; so lange noch nichts Taktisches 'geht', stellt Carlsen erstmal seelenruhig seine Angriffsfiguren besser, so dass sie letztlich alle zusammenarbeiten können. Diese Ruhe täuscht aber; Weiß darf hier kein einziges Tempo vergeuden, denn wenn sich Schwarz seinen Königsflügel sichern kann, gewinnt er mit seinen Damenflügelbauern. Df6 34. Dxh7 Dg7 35. Dc2 Ein überraschend weiter Rückzug, aber auf Df5 offeriert Schwarz einfach wieder mit Df6 den Damentausch, den Weiß nicht annehmen darf. Df6 Kommt dem zu erwartenden Tg4 schon mal zuvor, aber möglicherweise waren hier Dg6 (mit erneuter Damentauschofferte) oder Dh6 (damit die weiße Dame später nicht nach h7 kommt) besser. 36. Tg4 Jetzt droht sehr stark Dh7, wonach es wegen der Mattdrohung auf g8 gleich aus wäre. Lc5 37. Te2 Deckt f2 und erneuert damit die Drohung Dh7. Dh6 Jetzt erzwungen, aber auch gut. Der große Verteidigungskünstler Karjakin scheint seine Stellung wirklich konsolidiert zu haben. Wie will Carlsen hier noch weiterkommen? Oder hat er die Stellung rettungslos überzogen? Es gibt ja nicht einmal eine Möglichkeit, Material zurückzubekommen. 38. g3! Sehr schön gespielt. So verschafft sich Carlsen die Möglichkeit Th4, die den Angriff aufrecht erhält. Und der h-Bauer ist tabu. Sf6 39. Th4 Dg7 Droht Dxg3+ 40. Kg2 Dg5?! Was hätte Carlsen wohl gespielt, wenn Karjakin hier mit Sxd5 zugegriffen hätte? Das könnte uns wohl nur er selber sagen (und vielleicht steht die Antwort ja auch schon irgendwo im Netz ... ). Karjakin glaubte wohl fälschlicherweise, dass es stärker wäre, mit der Dame auf d5 zu nehmen statt mit dem Springer.
41. Dc3! Ld6? Nun ist Sxd5 nicht mehr möglich wegen Th8+, und nach dem möglicherweise geplanten Dxd5+ 42. Kh2 gäbe es keine angenehme Deckung für den Sf6. Trotzdem wäre dies wohl gerade noch spielbar gewesen.
Am besten wäre Karjakin jetzt mit der Dame zurückgekehrt: Dg7 Der Textzug ist ganz falsch und verliert schnell. Eigentlich schade, wo die Partie bis hierhin von beiden Seiten wirklich ausgezeichnet gespielt wurde. Aber jeder Turnierspieler kennt das: hat man einmal einen nicht ganz optimalen Zug gespielt (hier 40... Dg5) und erkennt dies dann selbst, fällt man aus psychologischen Gründen oft mit dem nächsten Zug ganz aus dem Sattel.
42. Th8+ Diesen Zug dürfte Karjakin ja kaum übersehen haben ... Sg8 43. Te4! Eher schon diesen, bzw. vielleicht den Umstand, dass Schwarz nun nicht auf d5 nehmen kann! Dg7 44. Txg8+!! Ein brillanter Schlusszug. 44. Txg8+ Dxg8 45. Tg4 hier packt die Engine wieder mal das noch stärkere Df6 aus Dh7 46. Th4 Dg8 47. Th8 wieder mit Damengewinn. Karjakin sah in dem entstehenden Endspiel mit Turm und Läufer gegen die Dame keine Chance mehr und gab (schon nach 44. Txg8+) auf. Formtief hin oder her, dies hätte Carlsen auch in Hochform nicht überzeugender spielen können.
duennbraddel - 18. Jun '17
Vielen Dank für die interessante und lesenswerte Analyse. Hier die Analyse zu diesem Spiel von GM Nils Grandelius: youtu.be/WVakngORIGg
Canal_Prins - 18. Jun '17
@ Vabanque
Danke für die aufopfernde Arbeit !
@ duennbraddel
Danke für den Linkhinweis.
Danke für die aufopfernde Arbeit !
@ duennbraddel
Danke für den Linkhinweis.
Vabanque - 18. Jun '17
@duennbraddel: Danke für den Link, der eine gute Ergänzung zu meinen Kommentaren bildet, da Grandelius viel über die Eröffnung spricht, was ich hier völlig ausgelassen habe, erstens da ich kein Experte für diese Variante bin, und zweitens und vor allem, damit mein Kommentar insgesamt nicht zu lang und überladen wird (was er wegen des komplizierten Mittelspiels ja dann doch wurde).
@Canal_Prins: 'aufopfernd' ist ein wenig übertrieben, aber danke :) sagen wir eher, die Arbeit war anstrengend, hat aber auch Spaß gemacht!
@Canal_Prins: 'aufopfernd' ist ein wenig übertrieben, aber danke :) sagen wir eher, die Arbeit war anstrengend, hat aber auch Spaß gemacht!
Vabanque - 18. Jun '17
Übrigens gefällt mir Grandelius' Art und Weise, die Partie zu erläutern, sehr gut. Man erfährt viel darüber, wie ein starker Spieler denkt. Welche Figuren sollte man auf welche Felder stellen, damit sie (langfristig) gute Wirkung ausüben? Er zeigt auch viele Optionen auf, die nicht gespielt wurden, aber Züge, die wohl während der Partie überlegt wurden.
Interessant ist auch, dass Karjakin mit sehr wenig Zeit auf der Uhr sich hervorragend verteidigt hat, während der erste Zug, über den er wieder lang nachdachte (der 41., also der erste nach der Zeitkontrolle) sofort ein entscheidender Fehler war. Grandelius rätselte ebenso wie ich, was Karjakin da wohl übersehen haben mag ... aber jeder Turnierspieler kennt das 'Gespenster-Sehen' bei übergroßer Anspannung. Man sieht jede Menge Drohungen, die gar nicht da sind, und übersieht dafür die eine Drohung, die wirklich besteht.
Interessant ist auch, dass Karjakin mit sehr wenig Zeit auf der Uhr sich hervorragend verteidigt hat, während der erste Zug, über den er wieder lang nachdachte (der 41., also der erste nach der Zeitkontrolle) sofort ein entscheidender Fehler war. Grandelius rätselte ebenso wie ich, was Karjakin da wohl übersehen haben mag ... aber jeder Turnierspieler kennt das 'Gespenster-Sehen' bei übergroßer Anspannung. Man sieht jede Menge Drohungen, die gar nicht da sind, und übersieht dafür die eine Drohung, die wirklich besteht.
Kellerdrache - 18. Jun '17
In gewisser Weise erinnert die Partie an die Begegnungen aus dem WM-Kampf der beiden. Karjakin gerät aus der Eröffnung in einen gewissen Nachteil und verteidigt sich um so zäher je größer der Druck wird. Anders als dort geht Carlsen hier das notwendige Risiko. Immerhin gibt er Karjakin ja quasi den ganzen Damenflügel zu einem Zeitpunkt als sein eigener Angriff auf der Gegenseite nicht mehr sehr Erfolg versprechend aussieht.
Carlsens Gespür dafür wann er abwarten kann und wann er aufs Gas drücken muss ist ganz erstaunlich. Das die Partie dann auch noch das verdiente spektakuläre Ende hat rundet das Ganze sehr schön ab. Endlich eine Carlsen-Partie beim norwegischen Turnier die man ungebremst geniessen konnte.
Carlsens Gespür dafür wann er abwarten kann und wann er aufs Gas drücken muss ist ganz erstaunlich. Das die Partie dann auch noch das verdiente spektakuläre Ende hat rundet das Ganze sehr schön ab. Endlich eine Carlsen-Partie beim norwegischen Turnier die man ungebremst geniessen konnte.