Kommentierte Spiele
Michail Tal (II): Polugaevsky-Tal 1979
Vabanque - 19. Okt '14
Gegen Lev Polugaevsky ('Polu') sah Tal normalerweise nicht sehr gut aus; die Gesamtbilanz lautet 8 : 2 für Polu bei 24 Remisen. Nach einem Sieg im Jahre 1959
musste Tal 20 Jahre warten, um gegen Polu endlich wieder gewinnen zu können. Aber die Weise, in der er dies tat, ist wahrlich sehenswert.































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musste Tal 20 Jahre warten, um gegen Polu endlich wieder gewinnen zu können. Aber die Weise, in der er dies tat, ist wahrlich sehenswert.
Lev Polugaevsky Mikhail Tal Riga Interzonal | Riga LAT | 2 | 1979.09.06 | A34 | 0:1
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4
3
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a
1

b

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g

h

1. Sf3 c5 2. c4 Sf6 Aus der Englischen Symmetrievariante heraus würde man ja nicht unbedingt eine Glanzpartie erwarten, schon gar nicht eine für Schwarz. 3. Sc3 d5 Aber Tal öffnet das Spiel schnellstmöglich. Ob dies von einem theoretischen Standpunkt aus in diesem frühen Partiestadium gut für Schwarz sein kann, mag dahingestellt bleiben. 4. xd5 Sxd5 5. e4 Weiß macht die scharfe Gangart mit. Sb4 Nun kann Weiß nicht 6. d4? cxd4 7. Sxd4?? spielen, weil er dann nach Dxd4! wegen der auf c2 möglichen Springergabel eine Figur verlöre. Gegen 6. d3!? wäre jetzt nicht unbedingt etwas einzuwenden, außer dass es den weißen Königsläufer einschlösse. Um dies zu verhindern, lässt Weiß das Springerschach auf d3 jedoch zu. 6. Lc4 Nun käme Weiß bei Sd3+ 7. Ke2 Sf4+ 8. Kf1 recht günstig zu stehen. Aber Tal hat etwas in petto. Le6!? Tal möchte den weißen Königsläufer abtauschen, um seinen Springer fest auf d3 etablieren zu können. Für uns 'Normalsterbliche' sieht der Zug positionell geradezu fürchterlich aus, denn Schwarz nimmt nicht nur einen Doppelbauern in Kauf, sondern auch die Hemmung der Entwicklung seines gesamten Königsflügels! 7. Lxe6 Sd3+ 8. Kf1 xe6 9. Sg5 Polu beeilt sich, den schwarzen Doppelbauern als schwach nachzuweisen. Außerdem hat die weiße Dame jetzt Ausblick zum Königsflügel. Db6 10. De2 c4 Diese Stütze des Sd3 macht einen sehr wackligen Eindruck, wie auch überhaupt die ganze schwarze Stellung dem alten Haus von Rocky Docky nicht unähnlich sieht. 11. b3 Damit gewinnt Weiß einen Bauern, denn auf z.B. Dc6 käme 12. bxc4 Dxc4 13. Sxe6. Offensichtlich kann sich Schwarz darauf nicht einlassen, genauso wenig wie auf 11... cxb3 12. Dxd3 b2 13. Lxb2 Dxb2 14. Tb1 Da3 15. Sxe6. Schwarz muss den Bauern also opfern. Aber wann hätte Tal so etwas jemals bekümmern können? h6 12. Sf3 Von Dh5+ Kd7 hat Weiß nichts, weil dann plötzlich auch noch Matt auf f2 droht. Deswegen bleibt die Dame am Platz. Sc6 13. xc4 O-O-O Mit der Rochade deckt Schwarz wieder den Sd3. Trotzdem sieht seine Stellung immer noch gefährdet aus. Der Königsflügel ist weiterhin unentwickelt, und Weiß hat die offene b-Linie für seinen Turm, von dem Mehrbauern bei gesünderer Bauernstellung ganz zu schweigen. Der Positionsspieler Polu wird bis hierhin vielleicht noch recht zufrieden gewesen sein. Und doch muss auch Weiß seine Entwicklung erstmal abschließen, und seine Figuren finden nicht so leicht günstige Felder. Vor allem deckt der 'schlechte' schwarze Doppelbauer e6 das wichtige Zentralfeld d5 gegen wüste Übeltaten des weißen Springers ab. 14. g3 Weiß möchte 'künstlich' rochieren, um den Königsturm verwenden zu können, aber vermutlich hätte er besser sofort den Sd3 mittels Se1 befragen sollen. g5 Nun wird der schwarze Königsflügel doch noch entwickelt; der schwarze Königsläufer wird auf g7 sogar ein sehr wirkungsvolles Plätzchen erhalten. 15. Kg2 Dc5 Plötzlich kann Weiß seinen Mehrbauern gar nicht halten. 16. Tb1 Und die Angriffsmöglichkeiten auf der schönen halboffenen b-Linie erweisen sich als illusorisch. Lg7 17. Sb5 Weiß würde gerne La3 spielen. Dxc4! Nun droht Sf4+. 18. De3 Scheinbar pariert Weiß diese Drohung ganz leicht und droht seinerseits Sxa7+. Thf8! Schwarz kümmert sich überhaupt nicht um die weiße Drohung. Auf einmal ist auch der schwarze Königsturm sehr wirkungsvoll ins Spiel gelangt. Ermöglicht wurde dies wieder (indirekt) durch den Doppelbauern, da sich durch das Schlagen fxe6 im 8. Zug die f-Linie für Schwarz geöffnet hat. Weiß kann nun gar nicht 19. Sxa7+ Sxa7 20. Dxa7 (mit Mattdrohung auf b7) spielen, denn mit 20... Dxe4! deckt Schwarz b7 (so dass Weiß mit Da8+ Kc7 nichts erreicht) und droht seinerseits vernichtend Dxf3+. Nach 21. De3 Dd5 hat Weiß gegen die Drohungen g5-g4 und Se5 dann keine Verteidigung und verliert den gefesselten Sf3. 19. Tf1 Damit es nach dem schwarzen g4 nicht auf f2 knallt. g4 20. Sh4 Alles scheint gedeckt. Sxf2!! Und doch knallt es auf f2! Nach 21. Txf2 Txf2+ 22. Kxf2 (auf Dxf2 Dxe4+ gewinnt Schwarz den ungedeckten Turm b1!) Tf8+ dürfte sich der weiße König nicht bewegen wegen Matt auf f1, Weiß müsste also 23. Sf5 spielen, und Schwarz behielte bei Rückgewinn der Figur entscheidenden Angriff. 21. Sg6 Der verzweifelte Versuch einer Gegenfinte. Nach 21... Tf6 22. Txf2 Txg6 (die oben gezeigte Kombination geht jetzt nicht, da Weiß das Feld f8 kontrolliert) könnte Weiß noch kämpfen. Td3! Aber Tal lässt nicht locker. Wieder geht Sxa7+ nicht wegen Sxa7 23. Dxa7 Dxe4+ nebst Matt. Und wenn die weiße Dame ausweicht? Nach e2 kann sie nicht wegen Txg3+. Auf 22. De1 ist die Lage komplizierter. Tal hätte dann aber sicher mit Tdf3! genau wie in der Partie den Sf8 geopfert, denn nach 23. Sxf8 Sd3 kann die weiße Dame wieder nicht nach e2 wegen Sf4+, und auf 24. Dd1 fällt e4 und der weiße König kommt im Kreuzfeuer der schwarzen Figuren um. 22. Sa3 Diese Einschaltung macht auch nichts besser. Zwar wird die weiße Dame von der Kontrolle des Feldes e2 abgedrängt, aber dafür erhalten die schwarzen Figuren Zugang zu d4. Da4 23. De1 Auf De2 folgt Sd4. Tdf3! Deckt zunächst f2 und macht das Feld d3 wieder für den Springer frei. Der Tf8 wird nicht mehr benötigt. Wie Tal in dieser Partie (und nicht nur in dieser!) mit den Figuren jongliert, ist wirklich beeindruckend. 24. Sxf8 Sd3 25. Dd1 Auf De2 käme wieder Sd4, also kann Weiß den Bauern e4 auch sofort im Stich lassen. Dxe4 26. Txf3 xf3+ Jetzt kann Weiß nicht auf f3 wiedernehmen wegen Se1+. Auf Kh3 käme sofort Sf2#, auf Kh1 f2+ nebst Matt, auf Kg1 Ld4+, und auf Kf1 eben die Textfortsetzung. 27. Kf1 Df5 Droht Dh3+ nebst Matt. Weiß hat immer noch materiellen Vorteil, aber alle seine Figuren stehen komplett unwirksam, und keine kann ihrem Chef zu Hilfe eilen. 28. Kg1 Ld4+ Und alles ist vorbei: 29. Kf1 Dh3# oder 29. Kh1 Sf2+. Weiß gab auf. Erstaunlich, wie schnell sich die weiße Stellung von (scheinbarem) positionellen Vorteil in eine völlige Ruine verwandelte, ohne dass Weiß einen erkennbaren Fehler begangen hätte. Man hat wirklich den Eindruck, Tal hätte mit Hilfe eines Zauberstabs die gegnerische Stellung in Schutt und Asche zerlegt. Nicht das alte Haus von Rocky Docky ist eingestürzt, sondern das neue Reihenhaus aus Beton. - Wenn eines Tages eine gute Fee bei mir einträte und ich die berühmten drei Wünsche frei hätte, dann würde einer davon ganz bestimmt lauten: 'Ich möchte Schach wie Tal spielen können!'
Kellerdrache - 20. Okt '14
Auch hier ist wieder erstaunlich wie in einer positionell fragwürdigen Stellung eine Drohung nach der anderen auftaucht sodaß sich die bessere Position nicht auswirkt. Den Weisheiten der Bücher folgend darf man sowas eigentlich gar nicht gewinnen können. Und doch hat Tal es, gegen einen absoluten Spitzenspieler mit seiner Kreativität vermocht. Ein echter Zauberer eben.
An dieser Stelle ein ausdrückliches Lob an den Kommentator. Du hast es geschafft, dass ich die Partie vom ersten bis zum letzten Zug verstanden habe, was deutlich schwieriger ist als es sich anhört.
An dieser Stelle ein ausdrückliches Lob an den Kommentator. Du hast es geschafft, dass ich die Partie vom ersten bis zum letzten Zug verstanden habe, was deutlich schwieriger ist als es sich anhört.
Vabanque - 20. Okt '14
Oh, danke für das Kompliment *rotwerd*
Ich gebe mir natürlich große Mühe, die Partie für den Nachspielenden verständlich zu machen. Bei dieser Partie hatte ich ehrlich gesagt auch so meine Bedenken, da sie doch recht kompliziert ist.
Die 'Weisheiten der Bücher' gelten eben nur für Normalsterbliche, nicht für Genies :)
Aber es ist wirklich schwer zu sagen, was Weiß in dieser Partie falsch gemacht hat und wo genau der Fehler war. 17. Sb5? kann man rückwirkend betrachtet als Fehler bezeichnen, denn danach ist keine Rettung für Weiß mehr zu sehen. Aber nun müsste man bessere Alternativen zu Sb5 finden und die jeweils entstehende Stellung untersuchen.
Ich denke eher, die ganze Strategie von Weiß war hier verfehlt. Er wollte den schwarzen Aufbau positionell widerlegen, aber dies war nicht möglich, oder jedenfalls nicht auf diese Weise.
Jeder von uns kennt das auf niedrigerer Ebene: Unser Gegner verletzt ganz offensichtlich die Eröffnungsprinzipien, er macht statt Entwicklungszügen Bauernzüge, zieht vielleicht gar die Bauern des Königsflügels vor, um einen Läufer zu fangen etc. ... und wir beeilen uns, dies zu 'widerlegen'. Wir greifen die geschwächte gegnerische Stellung wie wild an, es scheint zu gelingen, der gegnerische König muss wandern ... ja, aber letztlich haben wir nichts ... unsere weit vorgepreschten Figuren stehen auf einmal unkoordiniert, wir verlieren Material und haben nicht genug Angriff. Auf einmal formieren sich die Streitkräfte des Gegners und er steht auf Gewinn. Was haben wir falsch gemacht? Der Gegner hat doch gegen die gesunden Prinzipien verstoßen und nicht wir? Man versteht die Welt nicht mehr ... ja, aber Schach lässt sich halt einfach nicht in Buchweisheiten fassen, jede Partie und Stellung ist speziell und lässt sich nicht unbedingt nach 'allgemeinen Prinzipen' beurteilen.
Wenn wir etwas daraus lernen, dann dies: Einen fragwürdigen Aufbau des Gegners nicht widerlegen wollen, sondern einfach vernünftig weiterspielen und die Stellung spielbar halten. Das ist freilich auch leichter gesagt als getan.
Ich gebe mir natürlich große Mühe, die Partie für den Nachspielenden verständlich zu machen. Bei dieser Partie hatte ich ehrlich gesagt auch so meine Bedenken, da sie doch recht kompliziert ist.
Die 'Weisheiten der Bücher' gelten eben nur für Normalsterbliche, nicht für Genies :)
Aber es ist wirklich schwer zu sagen, was Weiß in dieser Partie falsch gemacht hat und wo genau der Fehler war. 17. Sb5? kann man rückwirkend betrachtet als Fehler bezeichnen, denn danach ist keine Rettung für Weiß mehr zu sehen. Aber nun müsste man bessere Alternativen zu Sb5 finden und die jeweils entstehende Stellung untersuchen.
Ich denke eher, die ganze Strategie von Weiß war hier verfehlt. Er wollte den schwarzen Aufbau positionell widerlegen, aber dies war nicht möglich, oder jedenfalls nicht auf diese Weise.
Jeder von uns kennt das auf niedrigerer Ebene: Unser Gegner verletzt ganz offensichtlich die Eröffnungsprinzipien, er macht statt Entwicklungszügen Bauernzüge, zieht vielleicht gar die Bauern des Königsflügels vor, um einen Läufer zu fangen etc. ... und wir beeilen uns, dies zu 'widerlegen'. Wir greifen die geschwächte gegnerische Stellung wie wild an, es scheint zu gelingen, der gegnerische König muss wandern ... ja, aber letztlich haben wir nichts ... unsere weit vorgepreschten Figuren stehen auf einmal unkoordiniert, wir verlieren Material und haben nicht genug Angriff. Auf einmal formieren sich die Streitkräfte des Gegners und er steht auf Gewinn. Was haben wir falsch gemacht? Der Gegner hat doch gegen die gesunden Prinzipien verstoßen und nicht wir? Man versteht die Welt nicht mehr ... ja, aber Schach lässt sich halt einfach nicht in Buchweisheiten fassen, jede Partie und Stellung ist speziell und lässt sich nicht unbedingt nach 'allgemeinen Prinzipen' beurteilen.
Wenn wir etwas daraus lernen, dann dies: Einen fragwürdigen Aufbau des Gegners nicht widerlegen wollen, sondern einfach vernünftig weiterspielen und die Stellung spielbar halten. Das ist freilich auch leichter gesagt als getan.
Eigenart - 22. Okt '14
Unser aller Dr. Hübner gegen Kasparov mit Gewinn 1992, wäre das eine zu besprechende? Ein Kampf auf beiden Flügeln.
Immer wieder ein Vergnügen, die kommentierten Partien hier nach zu spielen.
MfG
Eigenart
Immer wieder ein Vergnügen, die kommentierten Partien hier nach zu spielen.
MfG
Eigenart
Vabanque - 22. Okt '14
Ja, ich erinnere mich dunkel, diese Partie müsste ich mal wieder nachspielen, die war interessant. Aber sehr kompliziert.
Hübners Remis gegen Karpov (ich glaube Mitte der 70er Jahre) war auch klasse, könnte in die Reihe der interessantesten Remispartien passen.
Hübners Remis gegen Karpov (ich glaube Mitte der 70er Jahre) war auch klasse, könnte in die Reihe der interessantesten Remispartien passen.