Kommentierte Spiele

Große Partien ... (XXIX): Euwe - Keres 1948

Vabanque - 15. Jun '14
Wenn von den stärksten Spielern, die nie Weltmeister wurden, die Rede ist, dann muss natürlich unbedingt auch der zu früh verstorbene estnische GM Paul Keres (1916-1975) genannt werden. Unter seinen Fans halten sich hartnäckig die Gerüchte, die Sowjets hätten verhindert, dass Keres Weltmeister wurde, indem sie ihn durch Druckmittel gezwungen hätten, Partien absichtlich zu verlieren. Diese Behauptungen konnten natürlich nie nachgewiesen werden; viel wahrscheinlicher erscheint mir, dass Keres trotz allerhöchster Schachbegabung auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur (er wird von allen Zeitgenossen ausnahmslos als der denkbar umgänglichste Mensch geschildert) nicht den ultimativen Biss, den Killer-Instinkt entwickeln konnte, der meist nötig ist,
den Schachthron zu besteigen (zugegeben, Tal und Smyslov waren eigentlich auch zu nett und bescheiden, um Weltmeister zu werden, aber die schafften es ja auch jeweils nur für ein Jahr).
Solche Diskussionen sind ohnehin müßig; der Kenner erfreut sich da einfach an den schönen Partien, die Keres in Überfülle hinterlassen hat. Vor diesem Hintergrund wird es (wie ich finde) auch unwichtig, ob er nun Weltmeister gewesen ist oder nicht.
Keres hat übrigens häufig absichtlich zweifelhafte Eröffnungsvarianten ausprobiert, und das sogar in wichtigen Entscheidungspartien, so wie hier in einer
Partie, die aus dem WM-Turnier 1948 stammt.

Max Euwe Paul Keres World Ch Tournament | Moscow RUS / The Hague NED | 11 | 1948.04.11 | C74 | 0:1
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 a6 4. La4 d6 Die so genannte 'verzögerte' Steinitz-Verteidigung in der Spanischen Partie (die 'Verzögerung' besteht in der Einschaltung von 3... a6). 5. c3 f5 Die 'Siesta- Variante', die aber keineswegs geruhsam ist, sondern zu äußerst scharfem Spiel führt. Zu der Zeit, als diese Partie gespielt wurde, galt sie als 'widerlegt'. Euwe, als führender Theoretiker seiner Zeit, kannte natürlich diese 'Widerlegung', und wendet sie in der Folge auch an; mit welchem Resultat, werden wir gleich sehen. 6. xf5 Lxf5 7. d4 e4 8. Sg5 d5 9. f3 Nun brächte sowohl exf3 10. O-O! als auch 9... h6 10. fxe4! Weiß in Vorteil. Schwarz ist also zu dem folgenden Bauernopfer quasi gezwungen. e3! Auch das war zum Zeitpunkt der Partie kein neuer Zug; man dachte aber, dass Schwarz keinen genügenden Gegenwert für den Bauern erhält. 10. f4 Nach 10. Lxe3 h6 müsste der weiße Springer nach h3, wo er mittels Lxh3 unter Zerschlagung der Bauernstruktur am Königsflügel abgetauscht werden könnte. Mit dem Textzug deckt Weiß zunächst den Sg5, und sichert ihm (auf h6) das Rückzugsfeld f3. Ld6 Entwickelt und greift f4 an. 11. Df3 In einer langen Analyse zeigte Keres, dass Schwarz nach 11. Lxe3 De7 12. De2 Sf6 genügend Gegenchancen für den geopferten Bauern erhält. Engines bestätigen diese Einschätzung. Df6 In einer früheren Partie (Horowitz-Fine, 1934) spielte Schwarz hier Dd7 und konnte nach 12. Dxe3+ Se7 13. Sf3 O-O 14. Se5 keine Kompensation für den Bauern nachweisen; von daher galt das schwarze System als widerlegt. 12. Dxe3+ Natürlich nicht Dxd5 wegen Lxf4. Die Frage ist aber, ob nicht 12. Lxe3 doch besser war, auch wenn nach h6 der weiße Springer nach h3 zurück muss. Se7 13. Lxc6+? Nur Euwe selbst könnte uns sagen, was er mit diesem Abtausch eigentlich bezweckt hat. Letztlich schwächt das Fehlen des weißfeldrigen Läufers nur die weißen Felder im weißen Lager, wie sich bald zeigen wird. Weiß sollte einfach rochieren und dann an den Plan Sg5-f3-e5 denken. xc6 14. O-O O-O 15. Sd2? Erweist sich als fatal. Immer noch war Sf3 richtig und genügte wohl noch zum Ausgleich. Nach dem Textzug verstärkt Schwarz seine Stellung mit jedem Zug. Sg6! Droht Sxf4 nebst Dxg5. 16. g3 Notwendig, aber jetzt sind die weißen Felder noch mehr geschwächt. Tae8 Daraufhin darf die weiße Dame nicht nach f3, weil sonst h6 den Springer gewinnen würde. 17. Df2 Ld3 Man sieht, wie Schwarz freie Hand auf den weißen Feldern hat. 18. Te1 Sonst dringt Schwarz mit dem Turm nach e2 ein. Txe1+ 19. Dxe1 Lxf4! Die Zertrümmerung! Aber ja nicht Sxf4? 20. gxf4 Dxf4 wegen 21. De6+ Kh8 22. Sdf3!, und Schwarz kann seine Dame nur so retten, dass Weiß zum Damentausch kommt. 20. xf4 Weiß wirft die Flinte ins Korn. Das Einzige war noch 20. Sh3, wonach Schwarz eine gewaltige Stellungsüberlegenheit, aber noch keinen forcierten Gewinn hat. Weiß konnte allerdings nicht den Damentausch mit 20. De6+ anbieten, weil nach Dxe6 21. Sxe6 Le3+ 22. Kh1 Tf1+! 23. Kg2 (Sxf1 Le4 matt!) Tf2+ schnell gewonnen hätte (24. Kh3 Lf5+ bzw. 24. Kh1 Lxd2). Sxf4 Nun stehen alle schwarzen Figuren optimal, während die weißen teils völlig unentwickelt, teils versprengt herumstehen. Der Sg5 hängt. 21. Sdf3 Sein Kollege greift ihm unter die Arme. Doch diese Unterstützung wird von kurzer Dauer sein. Aber auf 21. Sgf3 wäre schon Dg6+ entscheidend, weil Weiß wegen 22. Dg3 Se2+ die Dame nicht dazwischen setzen kann. Und auf 22. Kf2 ist der weiße König völlig verloren im Kreuzfeuer der schwarzen Figuren, z.B. Sh3+ 23. Ke3 Lc2! mit Mattdrohung auf d3 (z.B. 24. Df1 De6+). Se2+ Durch das folgende Manöver erweist Keres wieder einmal den alten Satz, dass zwei Springer nicht geeignet sind, sich gegenseitig zu stützen. 22. Kg2 h6 Tja, da haben wir's. Der Sg5 darf sich nicht rühren, und Schwarz erhält die geopferte Figur in klarer Gewinnstellung zurück, weil die weiße Königsstellung unrettbar entblößt bleibt. 23. Dd2 Df5 Deckt nicht nur den Ld3, sondern droht vor allem Dg4+, wonach auf die Erwiderungen Kf1 oder Kf2 Schwarz wegen des gefesselten Sf3 mit Dg1 Matt geben könnte! 24. De3 xg5 Dg4+ würde jetzt schon auch reichen; aber der Textzug ist einfacher. Weiß hat keine Erwiderung mehr; auf Sxg5 käme mit Df1# ein hübsches Matt. 25. Ld2 Im 25. Zug beginnt Weiß endlich zaghaft, seinen Damenflügel zu mobilisieren; da ist wohl ganz grob etwas schief gelaufen?! In der Tat. Le4! Der Schlusspunkt: nach 26. Dxe2 Lxf3+ ist die Partie ebenso vorbei wie nach 26. Tf1 Dg4+ nebst Txf3. Weiß gab daher mit Recht auf. Eine typische Keres-Partie: wer außer ihm konnte einen Exweltmeister in solchem Stil in 25 Zügen besiegen, und das auch noch mit den schwarzen Steinen aus einer zweifelhaften Gambitvariante heraus? Und dabei sieht es hinterher so einfach aus ...
PGN anzeigen[Event "World Ch Tournament"]
[Site "Moscow RUS /

The Hague NED"]
[Date "1948.04.11"]
[EventDate "?"]
[Round

"11"]
[Result "0-1"]
[White "Max Euwe"]
[Black "Paul

Keres"]
[ECO "C74"]



1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 a6 4. Ba4 d6 {Die so

genannte 'verzögerte' Steinitz-Verteidigung in der

Spanischen Partie (die 'Verzögerung' besteht in der

Einschaltung von 3... a6).} 5. c3 f5 {Die 'Siesta-

Variante', die aber keineswegs geruhsam ist, sondern zu

äußerst scharfem Spiel führt. Zu der Zeit, als diese

Partie gespielt wurde, galt sie als 'widerlegt'. Euwe,

als führender Theoretiker seiner Zeit, kannte natürlich

diese 'Widerlegung', und wendet sie in der Folge auch

an; mit welchem Resultat, werden wir gleich sehen.} 6.

exf5 Bxf5 7. d4 e4 8. Ng5
d5 9. f3 {Nun brächte sowohl exf3 10. 0-0! als auch

9... h6 10. fxe4! Weiß in Vorteil. Schwarz ist also zu

dem folgenden Bauernopfer quasi gezwungen.} e3! {Auch

das war zum Zeitpunkt der Partie kein neuer Zug; man

dachte aber, dass Schwarz keinen genügenden Gegenwert

für den Bauern erhält.} 10. f4 { Nach 10. Lxe3 h6

müsste der weiße Springer nach h3, wo er mittels Lxh3

unter Zerschlagung der Bauernstruktur am Königsflügel

abgetauscht werden könnte. Mit dem Textzug deckt Weiß

zunächst den Sg5, und sichert ihm (auf h6) das

Rückzugsfeld f3.} 10... Bd6 {Entwickelt und greift f4

an.} 11. Qf3 {In einer langen Analyse zeigte Keres,

dass Schwarz nach 11. Lxe3 De7 12. De2 Sf6 genügend

Gegenchancen für den geopferten Bauern erhält. Engines

bestätigen diese Einschätzung.} 11... Qf6 {In einer

früheren Partie (Horowitz-Fine, 1934) spielte Schwarz

hier Dd7 und konnte nach 12. Dxe3+ Se7 13. Sf3 0-0 14.

Se5 keine Kompensation für den Bauern nachweisen; von

daher galt das schwarze System als widerlegt.} 12.

Qxe3+ {Natürlich nicht Dxd5 wegen Lxf4. Die Frage ist

aber, ob nicht 12. Lxe3 doch besser war, auch wenn nach

h6 der weiße Springer nach h3 zurück muss.} Ne7 13.

Bxc6+? {Nur Euwe selbst könnte uns sagen, was er mit

diesem Abtausch eigentlich bezweckt hat. Letztlich

schwächt das Fehlen des weißfeldrigen Läufers nur die

weißen Felder im weißen Lager, wie sich bald zeigen

wird. Weiß sollte einfach rochieren und dann an den

Plan Sg5-f3-e5 denken.} bxc6 14. O-O O-O 15.
Nd2? {Erweist sich als fatal. Immer noch war Sf3

richtig und genügte wohl noch zum Ausgleich. Nach dem

Textzug verstärkt Schwarz seine Stellung mit jedem

Zug.} Ng6! {Droht Sxf4 nebst Dxg5.} 16. g3 {Notwendig,

aber jetzt sind die weißen Felder noch mehr

geschwächt.} Rae8 {Daraufhin darf die weiße Dame nicht

nach f3, weil sonst h6 den Springer gewinnen würde.}

17. Qf2 Bd3 {Man sieht, wie Schwarz freie Hand auf den

weißen Feldern hat.} 18. Re1 {Sonst dringt Schwarz mit

dem Turm nach e2 ein.} Rxe1+ 19. Qxe1 Bxf4! {Die

Zertrümmerung! Aber ja nicht Sxf4? 20. gxf4 Dxf4 wegen

21. De6+ Kh8 22. Sdf3!, und Schwarz kann seine Dame nur

so retten, dass Weiß zum Damentausch kommt.} 20. gxf4

{Weiß wirft die Flinte ins Korn. Das Einzige war noch

20. Sh3, wonach Schwarz eine gewaltige

Stellungsüberlegenheit, aber noch keinen forcierten

Gewinn hat. Weiß konnte allerdings nicht den

Damentausch mit 20. De6+ anbieten, weil nach Dxe6 21.

Sxe6 Le3+ 22. Kh1 Tf1+! 23. Kg2 (Sxf1 Le4 matt!) Tf2+

schnell gewonnen hätte (24. Kh3 Lf5+ bzw. 24. Kh1

Lxd2).} Nxf4 {Nun stehen alle schwarzen Figuren

optimal, während die weißen teils völlig unentwickelt,

teils versprengt herumstehen. Der Sg5 hängt.} 21.
Ndf3 {Sein Kollege greift ihm unter die Arme. Doch

diese Unterstützung wird von kurzer Dauer sein. Aber

auf 21. Sgf3 wäre schon Dg6+ entscheidend, weil Weiß

wegen 22. Dg3 Se2+ die Dame nicht dazwischen setzen

kann. Und auf 22. Kf2 ist der weiße König völlig

verloren im Kreuzfeuer der schwarzen Figuren, z.B. Sh3+

23. Ke3 Lc2! mit Mattdrohung auf d3 (z.B. 24. Df1

De6+).} 21... Ne2+ {Durch das folgende Manöver erweist

Keres wieder einmal den alten Satz, dass zwei Springer

nicht geeignet sind, sich gegenseitig zu stützen.} 22.

Kg2 h6 {Tja, da haben wir's. Der Sg5 darf sich nicht

rühren, und Schwarz erhält die geopferte Figur in

klarer Gewinnstellung zurück, weil die weiße

Königsstellung unrettbar entblößt bleibt.} 23. Qd2 Qf5

{Deckt nicht nur den Ld3, sondern droht vor allem Dg4+,

wonach auf die Erwiderungen Kf1 oder Kf2 Schwarz wegen

des gefesselten Sf3 mit Dg1 Matt geben könnte!}
24. Qe3 hxg5 {Dg4+ würde jetzt schon auch reichen; aber

der Textzug ist einfacher. Weiß hat keine Erwiderung

mehr; auf Sxg5 käme mit Df1# ein hübsches Matt.} 25.

Bd2 {Im 25. Zug beginnt Weiß endlich zaghaft, seinen

Damenflügel zu mobilisieren; da ist wohl ganz grob

etwas schief gelaufen?! In der Tat.} Be4! {Der

Schlusspunkt: nach 26. Dxe2 Lxf3+ ist die Partie ebenso

vorbei wie nach 26. Tf1 Dg4+ nebst Txf3. Weiß gab daher

mit Recht auf. Eine typische Keres-Partie: wer außer

ihm konnte einen Exweltmeister in solchem Stil in 25

Zügen besiegen, und das auch noch mit den schwarzen

Steinen aus einer zweifelhaften Gambitvariante heraus?

Und dabei sieht es hinterher so einfach aus ... } 0-1
cutter - 15. Jun '14
So schön kann Fußball sein! Danke für diese schnörkellose Partie.
VG cutter
patzer0815 - 15. Jun '14
In der heutigen Zeit fällt wohl Aronian in diese Partie. Wenn es richtig ernst wird ist er auch "zu nett".
Kellerdrache - 15. Jun '14
Das kommt davon wenn man einfach der Theorie glaubt. Wie viele Spieler sehen auf Varianten herab weil sie mal im Buch gelesen haben, dass Weiß oder Schwarz klar besser stehen. Wenn irgendwer es dann trotzdem spielt sind sie oft ganz hilflos.

Auch modernes Schach ist noch lange keine Wissenschaft und wer nur das Wissen anderer Leute anwendet kann ganz plötzlich allein da stehen.
patzer0815 - 15. Jun '14
Dem stimme ich so nicht zu. Es sind eher die Amateure, die theoriehörig sind. Die Meister kenne die Bewertung der Theorie und wissen dann: "in dieser Stellung stehe ich etwas besser". Gerade in komplexen Stellung ist es eine große Hilfe zu wissen, wie die Stellung einzuschätzen ist. Von der Stellungseinschätzung hängt sehr stark ab welche Pläne ich verfolge.

Wichtiger als die genauen Varianten zu kennen ist - auf Meister wie auf Amateurniveau - die Stellungsfiguren zu verstehen.
Kellerdrache - 16. Jun '14
Da gebe ich dir vollkommen recht. Von der Theorie abzuweichen verlang schon ein gewisses Maß an Selbstbewußtsein und Vertrauen in die eigene Urteilskraft. Das ist bei GMs und Konsorten eher da als bei unser einem.

Ich habe nach einem Schachunterricht, der von einem IM gegeben wurde mal gefragt von welchen Eröffnungen er Spielern den abraten würde. Zu meiner Überraschung sagte er: " Unter den Amateuren kann man eigentlich alles spielen. Wenn man die Pläne oder Motive wirklich kennt und sich in den Stellungen zu Hause fühlt, ist man seinem Gegner oft auch in einer zweifelhaften Eröffnung überlegen. Unter Meistern funktioniert das nicht so richtig, weil die eben fast alle Pläne und Motive kennen."
Vabanque - 16. Jun '14
Das ist genau der Punkt; man muss sich in den sich aus einer Eröffnung ergebenden Stellungen zu Hause fühlen.
Allerdings ist es umso erstaunlicher, dass Keres gegen Euwe, einen der größten Theoretiker seiner Zeit, mit einer zweifelhaften Eröffnung gewinnen konnte. Keres schaffte das übrigens auch gegen Eliskases, Semmering 1937, mit dem Sizilianischen Flügelgambit, das ja auch weit davon entfernt ist, als korrekt zu gelten (damals wie heute). Aber die von mir gebrachte Partie gegen Euwe ist erstaunlicher, weil es Keres hier mit Schwarz in unter 30 Zügen schaffte, mit einer zweifelhaften Eröffnung zu gewinnen.