Kommentierte Spiele
Glanzpartien unbekannter Spieler (XXXII)
Vabanque - 12. Sep '15
Diesmal handelt es sich bei dem 'unbekannten Spieler' tatsächlich um einen GM. Adam Kuligowski (geb. 1955) hat aber die Turnierbühne schon Ende der 80er Jahre freiwillig verlassen und wurde (dem Vernehmen nach erfolgreicher) Geschäftsmann. Daher kennt ihn heute wohl keiner mehr, aber die folgende Partie wurde seiner Zeit von der Jury des renommierten 'Schach-Informators' zur besten Partie der ersten Hälfte des Jahres 1978 gekürt, und das besagt schon einiges. Es handelt sich um ein schönes Beispiel, wie man in einer scharfen Eröffnung nach geringfügigen Ungenauigkeiten des Weißen als Schwarzer frühzeitig die Initiative übernehmen kann. Jeder halbwegs erfahrene Spieler weiß aber, wie leicht sich dieser dynamische Vorteil wieder verflüchtigen kann, wenn man im entscheidenden Moment die richtige Fortsetzung verpasst. Kuligowski ist auf der Höhe und opfert im 12. Zug einen Läufer, um die Verbindung der Türme herzustellen und damit Weiß nicht mehr zu Atem kommen zu lassen.































PGN anzeigen
Schmidt, Wlodzimierz Kuligowski, Adam POL zt qv pl1-2 | Warsaw POL | 6 | 1978 | E20 | 0:1
8








7








6
5
4
3
2








a
1

b

c

d

e

f

g

h

1. d4 Sf6 2. c4 e6 3. Sc3 Lb4 4. g3 An dieser Stelle wurden und werden alle möglichen Züge gespielt: Dc2, Db3, a3, f3, e3, Sf3, Lg5, Ld2 und eben auch der (seltene) Textzug, der ebenfalls gut ist. c5 Schwarz kann an dieser Stelle, wie in fast allen Varianten der Nimzowitsch-indischen Verteidigung, auch mit d5 in eine Art Damengambit überleiten. Der thematische Textzug, der in sehr vielen Abspielen auftaucht, entspricht aber mehr dem 'indischen' Grundgedanken, das weiße Zentrum von der Flanke her anzugreifen. 5. Sf3 Se4 Auch hier kann Schwarz unter einer Reihe von Möglichkeiten wählen: cxd4, Sc6, b6 und O-O. Er entscheidet sich aber für die schärfste. 6. Dd3 d5 Logischer erscheint hier eigentlich Da5, was den Druck gegen c3 sofort verstärkt und den Se4 ja ebenfalls (indirekt) deckt, da nach Dxe4 Lxc3+ bxc3 Dxc3+ der Ta1 fiele. 7. xc5 Dieser Zug leuchtet mir nicht ein. Konnte sich Weiß denn nicht einfach und risikolos mit Lg2 und O-O weiterentwickeln? Die Zeit dazu wird er in der Partie nicht mehr haben. Da5 8. Sd2 Natürlicher sieht Ld2 aus. Die gekünstelte Figurenaufstellung wird Weiß später zum Verhängnis. Freilich, wenn Schwarz nun doppelt auf c3 schlüge, käme Weiß ganz gut heraus. Sxc5 Das tut er aber natürlich nicht, sondern spielt so, dass Weiß erstmal reagieren muss. 9. De3 O-O Schwarz setzt auf schleunige Figurenentwicklung. 10. xd5 xd5! Schwarz opfert einen Bauern. Der Zwischentausch auf c3 wäre schwächer. 11. Sxd5 Sc6 Denn jetzt kann Weiß mit seiner 'starken' Springerstellung auf d5 gar nichts anfangen, während der schwarze Lb4 unangenehm den Sd2 fesselt. Weiß kann nicht auf b4 tauschen, denn nach Sxb4 Sxb4 gäbe es gegen die Drohung Sc2+ keine befriedigende Verteidigung (Kd1 Lf5). 12. Lg2 Aber es sieht immerhin so aus, wie wenn Weiß im nächsten Zug gerade noch rochieren könnte. Der kritische Moment ist erreicht; kann Schwarz die Initiative aufrecht erhalten und sein Bauernopfer rechtfertigen? Lh3!! Mit diesem Zug erreicht er es. Er opfert einen Läufer, um die Türme zu verbinden und mit Tempo zu Tae8 zu kommen. Das ist keineswegs unkompliziert, denn nach dem folgenden Dg5 wird Weiß die Drohung Sf6+ haben ... 13. Lxh3 Nimmt Weiß das Opfer nicht an und spielt O-O, so erhält Schwarz risikolos eine gute Stellung (Lxg2 Kxg2 Tae8). Weiß will - wie häufig in solchen Fällen - , dass Schwarz die Korrektheit seines Opfers beweist. Tae8 Nun hat die weiße Dame nur 3 Felder, auf die sie gehen kann, von denen Df4 wegen Sd3+ sofort ausscheidet, und auch Df3 Sd4 sieht fürchterlich aus. 14. Dg5 Aber danach erscheint die Sachlage zunächst nicht klar. Te5! Der einzige Zug, der den Vorteil festhält. 15. Sf6+ Erzwungen. Im nächsten Zug muss Weiß dann den Springer zurückgeben, behält aber zunächst 2 Mehrbauern und hat den schwarzen König exponiert - zumindest scheint es so. Kh8 16. Dh4 Lf5 ging nämlich nicht wegen Sd3+ xf6 17. Dxf6+ Kg8 Der schwarze Te5 verhindert, dass Weiß auf g5 und f6 Dauerschach gibt. Hatte Kuligowski bei seinem 12. Zug bis zu dieser Stellung gerechnet (oder noch weiter)? Das erscheint mir bei derartigen Komplikationen fast nicht wahrscheinlich. Jedenfalls hat er eine mutige Entscheidung getroffen, die sich als korrekt erwies. Weiß wird weder mit seinen beiden Mehrbauern noch mit der 'exponierten' schwarzen Königsstellung etwas anfangen können. Rochiert er, so hängt der Sd2. Der weiße König kommt also aus der Mitte nicht weg. Zu allem Überfluss droht Schwarz aber auch noch Lxd2+ Lxd2 Dxd2+! nebst Se4+ bzw. auch direkt im folgenden Zug Se4, jeweils mit Figurengewinn. 18. Lf5 Vermeidet nicht nur die eben erwähnte Drohung, sondern droht selbst nun tatsächlich Dauerschach mit Dg5+ und Df6+. Se6 Hier wird der Springer für die Verteidigung ausgezeichnet stehen. Gleichzeitig ist jetzt der Lf5 bedroht. Tauscht Weiß auf e6, so ist nach fxe6 die weiße Dame wieder auf der Flucht. 19. Ld3 Td8 Nun hängt der unglückliche Läufer wegen der Fesselung auf der e-Linie schon wieder. Abermals konnte Schwarz eine Figur mit Tempo ins Spiel bringen. 20. Kd1 Der einzige Zug, der nicht unmittelbar eine Figur verliert. Nach dem Verzweiflungsschlag 20. Lxh7+ Kxh7 21. Dxf7+ Sg7 hätte Weiß nicht mal mehr ein Schach. Nach dem Textzug ist aber der Sd2 entfesselt und Schwarz muss aufpassen, dass dieser nicht plötzlich günstig nach c4 (mit Gabel) oder b3 wieder ins Spiel kommt. Txd3! Schwarz schreitet zur Demontage. 21. xd3 Lxd2 Damit der weiße Springer nie mehr zu neuer Aktivität erwacht. 22. Lxd2 Dd5 Nun hängt der Th1, und Schwarz wird zu Dxd3 nebst Scd4 oder Td5 gelangen. 23. Te1 Mit dem Turmtausch kann Weiß den schwarzen Angriff nicht mehr abschwächen. Txe1+ 24. Lxe1 Nach Kxe1 Dh1+ 25. Ke2 nimmt Schwarz nicht den Ta1, sondern gewinnt mit Scd4+ 26. Ke3 Sc2+ 27. Ke2 Sed4+ die weiße Dame! Dxd3+ 25. Ld2 Nach Kc1 Scd4 ist das Matt auf c2 unvermeidlich. Scd4 Aber auch so ist die Situation im Prinzip die gleiche. Man beachte, wie ideal der Se6 steht: er deckt die Felder g4 und d8 gegen weiße Damenschachs ab. Schwarz droht jetzt Matt auf zwei verschiedene Weisen: die eine davon ist De2+ nebst Df1+, gegen die Weiß sich verteidigt. Aber gegen die andere Mattdrohung gab es keine Verteidigung, es sei denn, Weiß wollte mit 26. De5 Dc2+ 27. Ke1 Sf3+ die Dame hergeben. 26. b3 Df1+ 27. Le1 De2+ Die Hilflosigkeit des Weißen auf den hellen Feldern ist verblüffend. Einen Zug vor dem Matt auf c2 gab Weiß - der sich immer noch im Materialvorteil befindet! - auf. Eine Partie, die durch kreatives Spiel von Schwarz abseits jeder Schablone besticht.
cutter - 13. Sep '15
Eine Perle.
Wieder toller Kommentar. Danke.
Wieder toller Kommentar. Danke.
Vabanque - 13. Sep '15
Du hast die Tippfehler nicht beanstandet ;)
Im Kommentar zum 25. Zug von Schwarz müsste es natürlich heißen: 'deckt die Felder g5 (nicht: g4) und d8 gegen weiße Damenschachs ab.'
Wer weiß, was der Fehlerteufel da noch so produziert hat?
Und warum entdecke ich das immer NACH dem Posten, obwohl ich IMMER alles noch einmal durchgehe?
Übrigens war es bei einigen der letzten Beiträge genauso, dass ich da immer noch mind. einen Tippfehler HINTERHER entdeckt habe ...
Im Kommentar zum 25. Zug von Schwarz müsste es natürlich heißen: 'deckt die Felder g5 (nicht: g4) und d8 gegen weiße Damenschachs ab.'
Wer weiß, was der Fehlerteufel da noch so produziert hat?
Und warum entdecke ich das immer NACH dem Posten, obwohl ich IMMER alles noch einmal durchgehe?
Übrigens war es bei einigen der letzten Beiträge genauso, dass ich da immer noch mind. einen Tippfehler HINTERHER entdeckt habe ...
cutter - 13. Sep '15
;-)
Kellerdrache - 14. Sep '15
Sehr schön. Mir gefällt vor allem die ökonomische Verteidigung der schwarzen Königsstellung ;-)).
Allerdings erinnerte mich der weiße Angriff auch so ein wenig an Anfängerschach - mit ein oder zwei Figuren alles bedrohen während hinten der Rest der Armee nutzlos rumsteht.
Trotzdem eine unterhaltsame Partie mit vielen originellen Zügen und wie immer einleuchtender Kommentierung.
Allerdings erinnerte mich der weiße Angriff auch so ein wenig an Anfängerschach - mit ein oder zwei Figuren alles bedrohen während hinten der Rest der Armee nutzlos rumsteht.
Trotzdem eine unterhaltsame Partie mit vielen originellen Zügen und wie immer einleuchtender Kommentierung.
Vabanque - 14. Sep '15
Weiß war aber immerhin ein GM mit über 2500 Elo!
Beule - 14. Sep '15
Na auch die fangen irgendwann mal an ;))
Kellerdrache - 14. Sep '15
Zur Klarstellung - ich hab schon gesehen, dass es sich bei dem Herrn Schmidt um einen 2500er handelte. ich will auch gar nix über sein Schachvermögen im allgemeinen sagen (wegen Glashaus und Steinen und so weiter), nur sein Königsangriff in dieser Partie weckte die besagten Assoziationen.
Das sollte übrigens auch nicht Kuligowskis Leistung schmälern - dessen Angriff war wirklich sauber und originell!
Das sollte übrigens auch nicht Kuligowskis Leistung schmälern - dessen Angriff war wirklich sauber und originell!
Vabanque - 22. Sep '15
Naja, zu diesem 'Königsangriff mit nur zwei Steinen' war Weiß ja im 18. Zug quasi gezwungen, nachdem er früher schon versäumt hatte, seine Figuren rechtzeitig zu entwickeln. Nun wird er bei seiner Spielstärke aber sicher gewusst haben, dass man die Figuren in der Eröffnung schnellstmöglich entwickeln soll :)
Wie kam es also dazu, dass er dies nicht tat? Nun, es gibt zahlreiche scharfe Varianten, in denen die schleunige Entwicklung noch zurückgestellt wird bzw. in den ersten Zügen gar nicht zweckmäßig ist. Natürlich wird bei beiderseits korrektem Spiel diese Entwicklung später nachgeholt. Dass es in dieser Partie bei Weiß nicht mehr dazu kam, liegt sicher an den Ungenauigkeiten im 7. und 8. Zug.
Schwarz hat mit seinem 4. und 5. ja schließlich auch die Prinzipien schnellstmöglicher Figurenentwicklung verletzt und im 7. Zug sogar die Dame verfrüht ins Spiel gebracht. Und trotzdem ging SEIN Konzept hier auf. Hätte Schwarz ungenau gespielt, so wäre umgekehrt wohl das weiße Konzept aufgegangen, trotz scheinbarer Vernachlässigung der 'gesunden Entwicklungsprinzipien.'
Wie kam es also dazu, dass er dies nicht tat? Nun, es gibt zahlreiche scharfe Varianten, in denen die schleunige Entwicklung noch zurückgestellt wird bzw. in den ersten Zügen gar nicht zweckmäßig ist. Natürlich wird bei beiderseits korrektem Spiel diese Entwicklung später nachgeholt. Dass es in dieser Partie bei Weiß nicht mehr dazu kam, liegt sicher an den Ungenauigkeiten im 7. und 8. Zug.
Schwarz hat mit seinem 4. und 5. ja schließlich auch die Prinzipien schnellstmöglicher Figurenentwicklung verletzt und im 7. Zug sogar die Dame verfrüht ins Spiel gebracht. Und trotzdem ging SEIN Konzept hier auf. Hätte Schwarz ungenau gespielt, so wäre umgekehrt wohl das weiße Konzept aufgegangen, trotz scheinbarer Vernachlässigung der 'gesunden Entwicklungsprinzipien.'