Kommentierte Spiele

Brillante Mattangriffe (XII): Ivanchuk - Jussupow 1991

Vabanque - 30. Nov '15
Bei dieser Partie handelt es sich vielleicht sogar um eine der erstaunlichsten aller Zeiten. Den gebürtigen Russen Artur Jussupow, der 1992 nach Deutschland emigrierte, kennen sicherlich viele Schachfreunde als Trainer. Aber nur wenigen wird bewussst sein, dass er einmal selber ein absoluter Top-Spieler gewesen ist, der in einem Kandidatenfinale gegen Vassily Ivanchuk gewann. Solch kompromissloses Schach, wie der damals 30-jährige Jussupow hier spielte, erwartet man - gelinde gesagt - nicht unbedingt bei so einer Veranstaltung. Jussupow opfert hier zunächst zwei Leichtfiguren, lässt dann aber sogar noch einen Turm mit Schach einstehen, um tödliche Mattdrohungen gegen Ivanchuks König zu schaffen. Dass Jussupows Angriff bei präziser Verteidigung nicht zum Erfolg geführt hätte, schmälert seine Leistung hier nicht unbedingt, wie ich finde.
Der syrisch-amerikanische GM Yasser Seirawan, der diese Partie in seinem Buch 'Winning Chess Brilliancies' auf 22 Buchseiten (!!) eingehend analysiert, geht sogar so weit, sie mit der 'Unsterblichen Partie', die 1851 zwischen Anderssen und Kieseritsky gespielt wurde, zu vergleichen.

Vassily Ivanchuk Artur Yusupov Brussel | Brussels BEL | 9 | 1991.08.?? | E67 | 0:1
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. c4 e5 2. g3 d6 3. Lg2 g6 4. d4 Sd7 5. Sc3 Lg7 6. Sf3 Sgf6 7. O-O O-O Durch Zugumstellung sind wir in einem eigentlich recht ruhigen Abspiel der Königsindischen Verteidigung gelandet. 8. Dc2 Te8 9. Td1 c6 10. b3 De7 Ich habe das zwar schon öfters geschrieben, wiederhole mich aber trotzdem an dieser Stelle: Man muss sich immer wundern, dass aus solch geschlossenen Aufbauten derartige Glanzpartien entstehen können. Mitte des 19. Jh. wurden ja fast alle Partien mit offenen Spielen eröffnet, da kam es schnell zur Konfrontation der Streitkräfte, und es wunderte einen nicht, dass Kombinationen entstanden. Aber dies hier sieht doch sehr nach gegenseitigem Belauern aus: eine typische moderne GM-Partie Ende des 20. Jh. eben - so glaubt man an dieser Stelle noch. 11. La3 Nun droht Weiß auf d6 zu nehmen, wonach Schwarz mindestens den gefesselten d-Bauern verlöre. e4 Hätte er den nächsten Zug nicht zur Verfügung, verlöre er den e-Bauern. 12. Sg5 e3 Natürlich kann Weiß jetzt nicht auf e3 schlagen, da ja dann der Springer auf g5 verloren ginge. 13. f4 Kommentatoren haben diesen Zug vielfach kritisiert und statt dessen f3 empfohlen, um die Felder e4 und g4 unter Kontrolle zu halten. Aber Ivanchuk wollte wohl seinem Läufer auf g2 den Ausblick nicht versperren. Sf8 14. b4 In diesen königsindischen Stellungen liegen die Chancen von Weiß üblicherweise auf dem Damenflügel. Wir werden auch gleich erleben, wie Weiß dort eine enorme Übermacht erlangt, und Schwarz auch keinen Versuch unternimmt, sich am Ort des Geschehens zu verteidigen, sondern seine gesamten Kräfte gegen den weißen Königsflügel konzentriert. Lf5 15. Db3 h6 16. Sf3 Sg4 17. b5 g5 18. xc6 xc6 19. Se5 Gestützt auf den immer noch gefesselten d-Bauern. Vielleicht hat Schwarz diesen Zug ja auch übersehen; jedenfalls bricht jetzt der schwarze Damenflügel vollständig zusammen und Schwarz hat gar keine andere Wahl mehr, als kompromisslos unter Materialopfer auf den weißen König loszugehen. xf4 20. Sxc6 Dg5 21. Lxd6 Sg6 Richtet nicht nur eine weitere Figur gegen die weiße Königsstellung, sondern deckt auch f4. 22. Sd5 Nun scheint Weiß auch noch das Zentrum zu beherrschen. Hat der schwarze Flügelangriff unter diesen Umständen überhaupt noch Chancen? Dh5 23. h4 Nach h3 Sf2 hinge h3, g3 und der Turm d1. Das wäre ein wenig zu viel für Weiß. Sxh4?! Dieses Opfer sollte eigentlich inkorrekt sein, gewinnt aber auf spektakuläre Weise, da Weiß nicht richtig reagiert. Sf2 oder fxg3 gaben Schwarz auch objektiv Chancen. Der Textzug ist aber sowieso viel erstaunlicher: Schwarz opfert damit ja nicht nur den Springer auf h4, sondern auch noch den Läufer f5, wie man gleich sehen wird. 24. xh4 Dxh4 25. Sde7+? So unglaublich es klingt: Vermutlich ist nach diesem Zug die weiße Partie verloren, während Weiß nach dem anderen Springerschach (Sce7+) gewonnen hätte! Es wird berichtet, dass Ivanchuk das Schach mit dem anderen Springer hätte geben wollten, aber versehentlich den falschen angefasst hat und dann natürlich damit ziehen musste. Allerdings wird von anderer Seite der Wahrheitsgehalt dieser Erzählung bestritten; nur Ivanchuk selber könnte uns darüber Auskunft geben. Ich werde hier natürlich keine mehrseitigen Analysen über die möglichen Folgen von 25. Sce7+ angeben; Interessierte können das alles in Seirawans Buch nachlesen. Dort steht auch, wie ein mehrköpfiges GM-Team in etlichen Stunden Analysearbeit endlich den Gewinn für Weiß gefunden hat, nachdem die 'offensichtlichen' Varianten Schwarz hier ebenfalls mindestens ein Remis verbürgen. Kh8 26. Sxf5 Der Nachspielende fragt sich allmählich immer mehr: Was hat Schwarz hier eigentlich 'drin'? Dh2+ 27. Kf1 Te6! Das ist die Idee! Der Turm wird nach g6 geführt, wonach Schwarz Mattdrohungen zur Verfügung hat. 28. Db7 Weiß scheint nun wirklich eine totale Gewinnstellung zu haben; nach Tg8 29. Sce7! verhindert er Tg6. Tg6!! Verblüffend! Schwarz lässt - mit zwei Minusfiguren - noch einen Turm mit Schach einstehen! 29. Dxa8+ Kh7 Die Pointe ist, dass Schwarz nun über die Drohung 30. Dh1+!! 31. Lxh1 Sh2+ 32. Ke1 Tg1# verfügt, die dank der einklemmenden Wirkung des Bauer e3 möglich ist. Dagegen ist nun schwer eine Verteidigung zu finden. 30. Sxe3 Sxe3+ 31. Ke1 Txg2 genügt jedenfalls nicht. 30. Dg8+ Das Einzige; durch die Hergabe der Dame erreicht Weiß die Beseitigung des Tg6 und bleibt materiell sogar noch im Vorteil. Kxg8 31. Sce7+ Kh7 32. Sxg6 xg6 33. Sxg7 Nun wird Weiß vielleicht gehofft haben, Schwarz müsste nun die Züge wiederholen mit 33... Dg3 (droht Matt) 34. Kg1 (die einzige Parade) Dh2+ 35. Kf1 Dg3 usw. Sf2! Schwarz zaubert etwas aus dem Hut. Der unscheinbare Zug droht vernichtend 34... Sh3! (Mattdrohung auf g1, um den Lg2 von der Deckung von h1 abzulenken) 35. Lxh3 Dh1#. 34. Lxf4 Das Einzige, um den Untergang noch aufzuschieben. Dxf4 35. Se6 Wieder das Einzige. Wenn Weiß die schwarze Dame nicht bedroht, entscheidet der Abzug Sh3+. Dh2 Die Übeltäterin kehrt an den Ort ihrer vergangenen Untaten zurück, und damit ist das Schicksal von Weiß besiegelt. Diesmal lässt sich die Drohung Sh3 nicht mehr abwehren. 36. Tdb1 Sh3 37. Tb7+ Ke1 Dxg2 38. Kd1 De4! hilft auch nicht mehr. Kg8 Einige Quellen geben hier Kh8 an. Es ist aber eigentlich einerlei, welcher von beiden Zügen tatsächlich gespielt wurde. Weiß hat so und so keine Chance mehr. 38. Tb8+ Dxb8 39. Lxh3 Dg3 Nach diesem nun endgültig undeckbaren Matt gab Weiß auf. Eine atemberaubende Partie.
PGN anzeigen
[Event "Brussel"]
[Site "Brussels BEL"]
[Date "1991.08.??"]
[EventDate "?"]
[Round "9"]
[Result "0-1"]
[White "Vassily Ivanchuk"]
[Black "Artur Yusupov"]
[ECO "E67"]


1.c4 e5 2.g3 d6 3.Bg2 g6 4.d4 Nd7 5.Nc3 Bg7 6.Nf3 Ngf6 7.O-O
O-O {Durch

Zugumstellung sind wir in einem eigentlich recht ruhigen Abspiel der

Königsindischen Verteidigung gelandet.} 8.Qc2 Re8 9.Rd1 c6 10.b3 Qe7 {Ich

habe das zwar schon öfters geschrieben, wiederhole mich aber trotzdem an

dieser Stelle: Man muss sich immer wundern, dass aus solch geschlossenen

Aufbauten derartige Glanzpartien entstehen können. Mitte des 19. Jh.

wurden ja fast alle Partien mit offenen Spielen eröffnet, da kam es

schnell zur Konfrontation der Streitkräfte, und es wunderte einen nicht,

dass Kombinationen entstanden. Aber dies hier sieht doch sehr nach

gegenseitigem Belauern aus: eine typische moderne GM-Partie Ende des 20.

Jh. eben - so glaubt man an dieser Stelle noch.} 11.Ba3 {Nun droht Weiß

auf d6 zu nehmen, wonach Schwarz mindestens den gefesselten d-Bauern

verlöre.} e4 {Hätte er den nächsten Zug nicht zur Verfügung, verlöre er

den e-Bauern.} 12.Ng5 e3 {Natürlich kann Weiß jetzt nicht auf e3 schlagen,

da ja dann der Springer auf g5 verloren ginge.} 13.f4 {Kommentatoren haben

diesen Zug vielfach kritisiert und statt dessen f3 empfohlen, um die

Felder e4 und g4 unter Kontrolle zu halten. Aber Ivanchuk wollte wohl

seinem Läufer auf g2 den Ausblick nicht versperren.} Nf8
14.b4 {In diesen

königsindischen Stellungen liegen die Chancen von Weiß üblicherweise auf

dem Damenflügel. Wir werden auch gleich erleben, wie Weiß dort eine enorme

Übermacht erlangt, und Schwarz auch keinen Versuch unternimmt, sich am Ort

des Geschehens zu verteidigen, sondern seine gesamten Kräfte gegen den

weißen Königsflügel konzentriert.} Bf5 15.Qb3 h6 16.Nf3 Ng4 17.b5 g5

18.bxc6 bxc6 19.Ne5 {Gestützt auf den immer noch gefesselten d-Bauern.

Vielleicht hat Schwarz diesen Zug ja auch übersehen; jedenfalls bricht

jetzt der schwarze Damenflügel vollständig zusammen und Schwarz hat gar

keine andere Wahl mehr, als kompromisslos unter Materialopfer auf den

weißen König loszugehen.}
gxf4 20.Nxc6 Qg5 21.Bxd6 Ng6 {Richtet nicht nur

eine weitere Figur gegen die weiße Königsstellung, sondern deckt auch f4.}

22.Nd5 {Nun scheint Weiß auch noch das Zentrum zu beherrschen. Hat der

schwarze Flügelangriff unter diesen Umständen überhaupt noch Chancen?} Qh5

23.h4 {Nach h3 Sf2 hinge h3, g3 und der Turm d1. Das wäre ein wenig zu

viel für Weiß.} Nxh4?! {Dieses Opfer sollte eigentlich inkorrekt sein,

gewinnt aber auf spektakuläre Weise, da Weiß nicht richtig reagiert. Sf2

oder fxg3 gaben Schwarz auch objektiv Chancen. Der Textzug ist aber

sowieso viel erstaunlicher: Schwarz opfert damit ja nicht nur den Springer

auf h4, sondern auch noch den Läufer f5, wie man gleich sehen wird.}

24.gxh4
Qxh4 25.Nde7+? {So unglaublich es klingt: Vermutlich ist nach

diesem Zug die weiße Partie verloren, während Weiß nach dem anderen

Springerschach (Sce7+) gewonnen hätte! Es wird berichtet, dass Ivanchuk

das Schach mit dem anderen Springer hätte geben wollten, aber

versehentlich den falschen angefasst hat und dann natürlich damit ziehen

musste. Allerdings wird von anderer Seite der Wahrheitsgehalt dieser

Erzählung bestritten; nur Ivanchuk selber könnte uns darüber Auskunft

geben. Ich werde hier natürlich keine mehrseitigen Analysen über die

möglichen Folgen von 25. Sce7+ angeben; Interessierte können das alles in

Seirawans Buch nachlesen. Dort steht auch, wie ein mehrköpfiges GM-Team in

etlichen Stunden Analysearbeit endlich den Gewinn für Weiß gefunden hat,

nachdem die 'offensichtlichen' Varianten Schwarz hier ebenfalls mindestens

ein Remis verbürgen.} Kh8 26.Nxf5 {Der Nachspielende fragt sich allmählich

immer mehr: Was hat Schwarz hier eigentlich 'drin'?}Qh2+ 27.Kf1 Re6! {Das

ist die Idee! Der Turm wird nach g6 geführt, wonach Schwarz Mattdrohungen

zur Verfügung hat.} 28.Qb7 {Weiß scheint nun wirklich eine totale

Gewinnstellung zu haben; nach Tg8 29. Sce7! verhindert er Tg6.} Rg6!!

{Verblüffend! Schwarz lässt - mit zwei Minusfiguren - noch einen Turm mit

Schach einstehen!}29.Qxa8+
Kh7 {Die Pointe ist, dass Schwarz nun über die

Drohung 30. Dh1+!! 31. Lxh1 Sh2+ 32. Ke1 Tg1# verfügt, die dank der

einklemmenden Wirkung des Bauer e3 möglich ist. Dagegen ist nun schwer

eine Verteidigung zu finden. 30. Sxe3 Sxe3+ 31. Ke1 Txg2 genügt jedenfalls

nicht.} 30. Qg8+ {Das Einzige; durch die Hergabe der Dame erreicht Weiß

die Beseitigung des Tg6 und bleibt materiell sogar noch im Vorteil.} Kxg8

31.Nce7+ Kh7 32.Nxg6 fxg6 33.Nxg7 {Nun wird Weiß vielleicht gehofft haben,

Schwarz müsste nun die Züge wiederholen mit 33... Dg3 (droht Matt) 34. Kg1

(die einzige Parade) Dh2+ 35. Kf1 Dg3 usw.} Nf2! {Schwarz zaubert etwas

aus dem Hut. Der unscheinbare Zug droht vernichtend 34... Sh3!

(Mattdrohung auf g1, um den Lg2 von der Deckung von h1 abzulenken) 35.

Lxh3 Dh1#.} 34.Bxf4 {Das Einzige, um den Untergang noch aufzuschieben.}
Qxf4 35.Ne6 {Wieder das Einzige. Wenn Weiß die schwarze Dame nicht

bedroht, entscheidet der Abzug Sh3+.}Qh2 {Die Übeltäterin kehrt an den Ort

ihrer vergangenen Untaten zurück, und damit ist das Schicksal von Weiß

besiegelt. Diesmal lässt sich die Drohung Sh3 nicht mehr abwehren.}

36.Rdb1 Nh3 37.Rb7+ {Ke1 Dxg2 38. Kd1 De4! hilft auch nicht mehr.} Kg8

{Einige Quellen geben hier Kh8 an. Es ist aber eigentlich einerlei,

welcher von beiden Zügen tatsächlich gespielt wurde. Weiß hat so und so

keine Chance mehr.} 38.Rb8+ Qxb8 39.Bxh3
Qg3 {Nach diesem nun endgültig

undeckbaren Matt gab Weiß auf. Eine atemberaubende Partie.} 0-1
Hasenrat - 30. Nov '15
Wirklich ganz erstaunlich u. beeindruckend!
Auch und gerade dieses den einen Flügel komplett aufzugeben, um am anderen schneller u. final zum Zuge zu kommen. Fast sieht es so aus als würden beide "Heere" komplett die Seiten um 90° wechseln, so "tänzeln" sie bald umeinander herum.
Vabanque - 30. Nov '15
Schön, von Dir mal wieder was hier zu lesen :)

In der Tat, das ist allein schon optisch beeindruckend. Es wird nur wenige solche Partien geben, gar auf diesem Top-Niveau.

Ich suche hier in dieser Reihe ja immer Partien zu bringen, die abseits jeglicher Schablone sind. Freilich: Ob die Partie auch lehrreich ist, das bleibt zweifelhaft. So einen Spielstil kann man unmöglich nachmachen, bei dem Versuch müsste man notgedrungen scheitern. So gesehen, sind schablonenhafte, stereotype Partien für den Durchschnittsspieler sogar lehrreicher und nützlicher zu studieren. (Macht aber viel weniger Spaß.)
plebs - 01. Dez '15
Eine hinreißende Partie...ganz große Klasse :-)) !!!!

Toll kommentiert...kurze Erklärung: Man hätte Seiten mit Kommentaren bzw. Analysen füllen können...du hast es aber auf die entscheidenden Punkte gebracht.

Vielen Dank und hoffentlich noch (viel) mehr.
Vabanque - 01. Dez '15
Danke! So war's auch gedacht; die Kommentare so zu verfassen, dass es den Genuss beim Nachspielen erhöht und nicht verleidet ;)