Kommentierte Spiele

Doppeltes Turmopfer: Khalifman - Serper 1994

Vabanque - 23. Apr '15
Die von 1993-2005 im KO-Modus ausgetragenen FIDE-Weltmeisterschaften fanden in der Schachwelt generell wenig Beachtung. Keiner der so ermittelten Weltmeister wurde von der Mehrheit der Schachfreunde als 'richtiger Weltmeister' anerkannt. Erstens nahmen weder Kasparov noch Kramnik an diesen Kämpfen teil, zweitens wurde auf Grund des sicher nicht sehr glücklichen Austragungsmodus gerne behauptet, da hätte doch jeder als Sieger hervorgehen können. Man ging sogar soweit, von einem 'Lotterieturnier' bzw. von 'Zufalls-Weltmeistern' zu sprechen. Mag sein, dass dies alles richtig ist, aber ohne diese fragwürdigen Weltmeisterschaften wäre ich wahrscheinlich nie dazu gekommen, mich mit den Partien des in St. Petersburg geborenen Alexander Khalifman zu beschäftigen, der 1999 besagte FIDE-Weltmeisterschaft für sich entscheiden konnte. Ungeachtet dieses Erfolges konnte er zwar nie zur engeren Weltspitze aufschließen, trotzdem zeigt die Durchsicht seiner Partien einen Spieler von außerordentlich interessantem Stil. Für mich - als Schach'konsument' - zählt bei einem Spieler ja nicht die reine Stärke, sondern die Schönheit seiner Partien, die natürlich - wie jede Schönheit - subjektiv ist. Karpov z.B. war mit absoluter Sicherheit einer der stärksten Spieler aller Zeiten, und doch sind mir von ihm bisher nur recht wenige Partien begegnet, die mich ansprechen. Umgekehrt kann Khalifman gewiss nicht unter die größten Spieler aller Zeiten gezählt werden, und doch gelang es ihm anscheinend erstaunlich häufig, spannungsreiche und ungewöhnliche situationen aufs Brett zu zaubern. Das mag teils daran liegen, dass eine seiner Spezialitäten das Opfer von Material gegen ein Stellungsübergewicht ist. Dies geschieht auch in der folgenden Partie, allerdings handelt es sich hier nur um ein schnödes Bauernopfer.
Bemerkenswert ist die Partie vor allem durch ihre Schlusskombination, die Khalifman als die befriedigendste seiner Karriere erwähnte, als er in einem Interview danach gefragt wurde. Ein doppeltes Turmopfer wird von einem stillen Zug gekrönt, der den Gegner vor ein undeckbares Matt stellt.
Da es mir hier hauptsächlich um den Schluss der Partie ging, habe ich in den Anmerkungen diesmal keine Varianten (die man mit dem hier installierten pgn-Viewer leider sowieso nicht nachspielen kann!) geliefert, sondern nur die Grundideen der Züge erläutert. (Ein weiterer Grund ist, dass ich trotz Zeitmangel wieder einmal eine kommentierte Partie online stellen wollte.)

Alexander Khalifman Grigory Serper Sankt Peterburg 62/457 Khalifman,A | Sankt Peterburg 62/457 Khalifman,A | 1994 | 1:0
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. d4 Sf6 2. c4 e6 3. Sf3 d5 4. Sc3 Lb4 Die Ragosin-Verteidigung des Damengambits. 5. xd5 xd5 6. Lg5 h6 7. Lh4 g5 Schwarz schlägt eine sehr scharfe Gangart an. Nach diesen Bauernvorstößen am Konigsflügel wird er kaum noch kurz rochieren können. 8. Lg3 Se4 Das war der schwarze Plan. Deckt Weiß nun c3 mit dem natürlichen Zug Tc1, so kommt Schwarz mit h6-h5, was die Einsperrung des Lg3 durch h5-h4 droht (auf Le5 könnte ja f6 geschehen), zu guter Initiative. 9. Sd2! Aber Weiß opfert einfach den Bauern, um selber zu Intiative zu kommen. Sxc3 10. xc3 Lxc3 11. Tc1 Nun ist es offensichtlich, dass Weiß nach Lxd2+ Dxd2 gute Kompensation für den Bauern hätte; er droht gegen c7 und hat die Möglichkeit h2-h4. La5 Deswegen scheint dieser schwarze Zug noch am besten: Schwarz rettet seinen Läufer, indem er gleichzeitig c7 deckt und die Fesselung des weißen Sd2 noch beibehält. 12. h4 g4 13. e3 Sc6 Es ist leicht, diesen Zug auf Grund seiner Konsequenzen zu kritisieren, aber egal wie sich Schwarz zu entwickeln versucht, Weiß findet immer Angriffspunkte. Sd7 geht z.B. schon einmal nicht sofort wegen Dxg4. 14. Lb5 Ld7 15. Tc5 Nun ist der Bauer d5 nicht mehr zu decken. De7 16. O-O! Aber es ist nicht nötig, sofort auf d5 zuzugreifen. Auf Txd5 wäre Db4 etwas störend, da Weiß darauf nicht rochieren könnte. Jetzt dagegen droht Lxc6 mit Figurgewinn, da Schwarz den dann vom Tc5 bedrohten La5 nicht mehr mit Schachgebot auf d2 retten könnte. Lb4 17. Txd5 Ld6 18. Sc4! Stärker als Lxd6 cxd6 20. Sc4, da sich nun auch noch die f-Linie öffnet und der Tf1 aktiviert wird. Lxg3 19. xg3 Zugleich ist die weiße Königsstellung jetzt bombenfest. Schwarz wird keine Möglichkeit der Linienöffnung am Königsflügel bekommen. O-O-O Wo soll der schwarze König denn sonst hin? Aber Weiß hat genügend offene Linien für seinen Angriff zur Verfügung. Im Großmeisterschach kann so eine Stellung durchaus bereits als für Weiß entschieden betrachtet werden. So gesehen wäre die Partie auch nichts Besonderes - hätte sie nicht diesen bemerkenswert schönen Schluss, dessen wir gleich Zeuge werden. 20. Da4 De4 Das sind nur Stänkerversuche mangels echten Gegenspiels. 21. Tc5 Kb8 22. Tf4 Und schon muss sich die vorwitzige schwarze Dame in ohnmächtiger Wut wieder zurückziehen ... aber jedenfalls so, dass sie für alle Fälle c6 noch einmal überdeckt. De8 23. Kh2 Ein prophylaktischer Zug, der schlaglichtartig den Unterschied zwischen menschlichem und Engine-Schach beleuchtet. Engines ziehen hier Tf6, Db3 oder auch Tf2 gleich ohne Vorbereitung. Der Textzug soll vermeiden, dass nach einem eventuellen Wegzug des Sc4 der Bauer e3 mit 'Musik' (sprich: Schachgebot) hängt. Die Zeit dazu hat Weiß auf alle Fälle. f5 24. Tf2 Die Gewinnidee. Der Turm wird nach b2 auf die b-Linie geführt, um dort am Angriff gegen den schwarzen König entscheidend mitzuwirken. Die Einfachheit des Manövers ist täuschend. h5 25. Tb2 Khalifman behauptete, an dieser Stellung bereits die Schlussstellung vor seinem geistigen Auge gesehen zu haben, was man ihm durchaus glauben kann, denn für einen GM ist es nicht allzu schwierig, die folgenden Züge zu berechnen. Allerdings war er wohl in der Partie an dieser Stelle äußerst verblüfft, weil er kaum glauben konnte, dass so eine Kombination wie die folgende in der Realität tatsächlich passieren würde. Th6 Dies ist eine logische Reaktion auf die Drohung des Figurgewinns, die Weiß mit seinem letzten Zug wegen der Fesselung auf der b-Linie aufgestellt hat. 26. d5! Der letzte Verteidiger der schwarzen Königsburg wird verjagt. Se5 Wieder 'logisch'. Auf 26... Se7 plante Khalifman 27. d6! und weist in einer komplizierten Analyse nach, dass Weiß damit tatsächlich gewinnt. 27. Lxd7! Nimmt Schwarz nun mit dem Turm wieder, so verliert er nach Sxe5 eine Figur, da die schwarze Dame nicht auf e5 zurückschlagen kann, ohne den Turm auf d7 im Stich zu lassen. Schlägt Schwarz dagegen 27... Dxd7, so ist er nach 28. Tcb5! zum Einen mit einem zweizügigen Matt nach Txb7+ bedroht, zum Anderen hängt aber sein Springer. Sxd7 Also bleibt nur noch diese Möglichkeit des Wiedernehmens, wonach sich dann aber endlich das weiße Stellungübergewicht in einer Opferkaskade entlädt. 28. Txb7+! Kxb7 29. Txc7+! Es ist wirklich kaum zu glauben, dass wir uns in einer Großmeisterpartie Ende des 20. Jh. befinden. Aber selbst 100 Jahre früher sind solche Partieschlüsse auf diesem Niveau eine Rarität gewesen. Kxc7 Schwarz musste beide Türme verspeisen, da er sonst sofort Matt geworden wäre. 30. Dxa7+ Kc8 31. d6 Dieser 'stille' Zug (also einer, der weder Schach bietet noch einen Stein schlägt) krönt die Kombination. Es droht Matt auf c7, das nur mit Txh6 zu verhindern wäre, aber in diesem Fall nähme der weiße Springer mit Matt wieder. Ein außerordentlich ästhetischer Schluss.
PGN anzeigen[Event "Sankt Peterburg 62/457 Khalifman,A"]
[Site "Sankt Peterburg

62/457 Khalifman,A"]
[Date "1994.??.??"]
[EventDate "?"]
[Round "?"]
[Result

"1-0"]
[White "Alexander Khalifman"]
[Black "Grigory Serper"]

1.d4 Nf6 2.c4

e6 3.Nf3 d5 4.Nc3 Bb4 {Die Ragosin-Verteidigung des Damengambits.} 5.cxd5

exd5 6.Bg5 h6 7.Bh4
g5 {Schwarz schlägt eine sehr scharfe Gangart an. Nach

diesen Bauernvorstößen am Konigsflügel wird er kaum noch kurz rochieren

können.} 8.Bg3 Ne4 {Das war der schwarze Plan. Deckt Weiß nun c3 mit dem

natürlichen Zug Tc1, so kommt Schwarz mit h6-h5, was die Einsperrung des

Lg3 durch h5-h4 droht (auf Le5 könnte ja f6 geschehen), zu guter

Initiative.} 9.Nd2! {Aber Weiß opfert einfach den Bauern, um selber zu

Intiative zu kommen.} Nxc3 10.bxc3 Bxc3 11.Rc1 {Nun ist es offensichtlich,

dass Weiß nach Lxd2+ Dxd2 gute Kompensation für den Bauern hätte; er droht

gegen c7 und hat die Möglichkeit h2-h4.} Ba5 {Deswegen scheint dieser

schwarze Zug noch am besten: Schwarz rettet seinen Läufer, indem er

gleichzeitig c7 deckt und die Fesselung des weißen Sd2 noch beibehält.}

12.h4 g4 13.e3
Nc6 {Es ist leicht, diesen Zug auf Grund seiner

Konsequenzen zu kritisieren, aber egal wie sich Schwarz zu entwickeln

versucht, Weiß findet immer Angriffspunkte. Sd7 geht z.B. schon einmal

nicht sofort wegen Dxg4.} 14.Bb5 Bd7 15.Rc5 {Nun ist der Bauer d5 nicht

mehr zu decken.} Qe7 16.O-O! {Aber es ist nicht nötig, sofort auf d5

zuzugreifen. Auf Txd5 wäre Db4 etwas störend, da Weiß darauf nicht

rochieren könnte. Jetzt dagegen droht Lxc6 mit Figurgewinn, da Schwarz den

dann vom Tc5 bedrohten La5 nicht mehr mit Schachgebot auf d2 retten

könnte.} Bb4 17.Rxd5 Bd6 18.Nc4! {Stärker als Lxd6 cxd6 20. Sc4, da sich

nun auch noch die f-Linie öffnet und der Tf1 aktiviert wird.} Bxg3
19.fxg3

{Zugleich ist die weiße Königsstellung jetzt bombenfest. Schwarz wird

keine Möglichkeit der Linienöffnung am Königsflügel bekommen.} O-O-O {Wo

soll der schwarze König denn sonst hin? Aber Weiß hat genügend offene

Linien für seinen Angriff zur Verfügung. Im Großmeisterschach kann so eine

Stellung durchaus bereits als für Weiß entschieden betrachtet werden. So

gesehen wäre die Partie auch nichts Besonderes - hätte sie nicht diesen

bemerkenswert schönen Schluss, dessen wir gleich Zeuge werden.} 20.Qa4 Qe4

{Das sind nur Stänkerversuche mangels echten Gegenspiels.} 21.Rc5 Kb8

22.Rf4 {Und schon muss sich die vorwitzige schwarze Dame in ohnmächtiger

Wut wieder zurückziehen ... aber jedenfalls so, dass sie für alle Fälle c6

noch einmal überdeckt.} Qe8 23.Kh2 {Ein prophylaktischer Zug, der

schlaglichtartig den Unterschied zwischen menschlichem und Engine-Schach

beleuchtet. Engines ziehen hier Tf6, Db3 oder auch Tf2 gleich ohne

Vorbereitung. Der Textzug soll vermeiden, dass nach einem eventuellen

Wegzug des Sc4 der Bauer e3 mit 'Musik' (sprich: Schachgebot) hängt. Die

Zeit dazu hat Weiß auf alle Fälle.} f5
24.Rf2 {Die Gewinnidee. Der Turm

wird nach b2 auf die b-Linie geführt, um dort am Angriff gegen den

schwarzen König entscheidend mitzuwirken. Die Einfachheit des Manövers ist

täuschend.} h5 25.Rb2 {Khalifman behauptete, an dieser Stellung bereits

die Schlussstellung vor seinem geistigen Auge gesehen zu haben, was man

ihm durchaus glauben kann, denn für einen GM ist es nicht allzu schwierig,

die folgenden Züge zu berechnen. Allerdings war er wohl in der Partie an

dieser Stelle äußerst verblüfft, weil er kaum glauben konnte, dass so eine

Kombination wie die folgende in der Realität tatsächlich passieren würde.}

Rh6 {Dies ist eine logische Reaktion auf die Drohung des Figurgewinns, die

Weiß mit seinem letzten Zug wegen der Fesselung auf der b-Linie

aufgestellt hat.} 26.d5! {Der letzte Verteidiger der schwarzen Königsburg

wird verjagt.} Ne5 {Wieder 'logisch'. Auf 26... Se7 plante Khalifman 27.

d6! und weist in einer komplizierten Analyse nach, dass Weiß damit

tatsächlich gewinnt.} 27.Bxd7! {Nimmt Schwarz nun mit dem Turm wieder, so

verliert er nach Sxe5 eine Figur, da die schwarze Dame nicht auf e5

zurückschlagen kann, ohne den Turm auf d7 im Stich zu lassen. Schlägt

Schwarz dagegen 27... Dxd7, so ist er nach 28. Tcb5! zum Einen mit einem

zweizügigen Matt nach Txb7+ bedroht, zum Anderen hängt aber sein

Springer.} Nxd7 {Also bleibt nur noch diese Möglichkeit des Wiedernehmens,

wonach sich dann aber endlich das weiße Stellungübergewicht in einer

Opferkaskade entlädt.} 28.Rxb7+! Kxb7
29.Rxc7+! {Es ist wirklich kaum zu

glauben, dass wir uns in einer Großmeisterpartie Ende des 20. Jh.

befinden. Aber selbst 100 Jahre früher sind solche Partieschlüsse auf

diesem Niveau eine Rarität gewesen.} Kxc7 {Schwarz musste beide Türme

verspeisen, da er sonst sofort Matt geworden wäre.} 30.Qxa7+ Kc8 31.d6

{Dieser 'stille' Zug (also einer, der weder Schach bietet noch einen Stein

schlägt) krönt die Kombination. Es droht Matt auf c7, das nur mit Txh6 zu

verhindern wäre, aber in diesem Fall nähme der weiße Springer mit Matt

wieder. Ein außerordentlich ästhetischer Schluss.} 1-0
cutter - 23. Apr '15
Ein sehr schönes Feuerwerk. Danke für die Partie.
Vabanque - 23. Apr '15
Danke fürs Feedback :)

Und keine Tippfehler gefunden? ;)

Hab selber doch schon wieder einen entdeckt ... allerdings im (zu lang geratenen) Vorspann ...
Kellerdrache - 24. Apr '15
Ja, eine der wichtigsten Entscheidungen einer Schachpartie ist immer wohin man rochieren soll. Die lange Rochade sieht hier von Anfang an verdächtig aus. Womit ich nicht gesagt haben will, dass ich den Schlussangriff auch gefunden hätte.
Kurze Rochade oder den König in der Mitte lassen sah aber auch nicht gut aus. Wo also hat Schwarz sich die Partie so grundlegend versaut ? Ist die ganze Eröffnung mit dem frühen Materialgewinn schon das Fundament der Katastrophe ?
Vabanque - 24. Apr '15
Ja, rückschauend muss man es fast so sehen, dass die ganze Variante für Schwarz fragwürdig ist, falls Weiß sich zu dem Bauernopfer entschließt. Zumindest spielt es sich danach sehr schwer für Schwarz. Er verliert, ohne dass man ihm einen einzelnen direkten Fehler ankreiden könnte. Allenfalls 13... Sc6, was die Fesselung mit Lb5 zulässt, könnte man als einen solchen sehen.
Hasenrat - 24. Apr '15
Ja, überwältigend! Muss man wirklich sagen! Donnerschläge, Feuerzauber! Die Türme pulverisiert, reingepfeffert, frische ästhetisch-ätherisch duftig freie Mattluft nach dem Gewitter.
Gefällt mir!!
Im Übrigen auch generell der extralange Vorspann und die variantennotationsfreien Kommentare!
Das ist für mich der ideale Partienkommentar!
Vabanque - 25. Apr '15
Nun ja, manchmal sind Varianten aber unerlässlich, um die gewählten Züge überhaupt verstehen zu können. Ich versuche natürlich generell die Partien auch so auszuwählen, dass man die meisten Züge auch ohne oder mit kurzen Nebenvarianten einigermaßen nachvollziehen kann.

Es ist jedenfalls schön, dass die Partie und der Kommentar offenbar auf Widerhall stößt :)