Kommentierte Spiele

Große Partien ... (XXVII): Tartakower - Rubinstein 1925

Vabanque - 10. Jun '14
Der russisch-polnisch-österreichisch-jüdische GM Savielly Tartakower (1887-1956) war ein vielseitig interessierter und begabter Mensch. Er promovierte in Jura und übersetzte später - als Wahlfranzose - russische Literatur ins Französische. Die von ihm selber kommentierte Sammlung seiner besten Partien 'Tartacover vous parle' ist allein schon wegen der geschliffenen Prosa lesenswert (und das obwohl er gar kein französischer Muttersprachler war!).
Seine scharf pointierten Schach-Aphorismen ('Der vorletzte Fehler gewinnt'; 'Die Fehler sind alle schon auf dem Brett und warten nur noch darauf gemacht zu werden') sind heute sicher bekannter als seine Partien; und doch gehörte er in den ersten paar Jahrzehnten des 20. Jh. der Weltspitze an und konnte - wenn er in Form war - auch die allergrößten Spieler in überzeugendem Stil besiegen. Dies erleben wir in der vorliegenden Partie.

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[Event "Moscow"]
[Site "Moscow URS"]
[Date "1925.12.06"]
[EventDate "1925.11.10"]
[Round "20"]
[Result "1-0"]
[White "Savielly Tartakower"]
[Black "Akiba Rubinstein"]


1. e4 e5 2. Nc3 {Diese so genannte

'Wiener Partie' war bereits damals der Kategorie der

vom Aussterben bedrohten Eröffnungen zuzurechnen; aber

Tartakower war nicht zuletzt berüchtigt dafür, genau

solche Eröffnungen wieder in die Turnierpraxis

einzuführen, nicht selten mit Erfolg. Der Sinn der

Auslassung des eigentlich logischen Sf3 besteht

hauptsächlich darin, den f-Bauern nicht zu verstellen

und im günstigen Moment f2-f4 zu spielen.} Nc6 {Zu

lebhafterem Spiel führt die Variante Sf6 3. f4 d5.} 3.

Bc4 Nf6 4. d3 Bc5 5. Be3 {Jetzt würde Lxe3 dem Weißen

die f-Linie öffnen.} d6 {Natürlicher sieht Lb6 aus,

aber auch den Textzug kann Schwarz sich gut leisten,

denn der entstehenden Doppelbauer sieht nicht so aus,

als ob er schwach werden würde, und er kontrolliert

überdies das Zentrum.} 6. Bxc5 dxc5 7. Nge2 {Weiß

spielt immer noch konsequent auf seinen Plan f2-f4.}

Na5 {Schwarz tauscht den weißen Läufer, der nach einer

Öffnung der f-Linie sehr unangenehm auf f7 drücken

würde.} 8.
Bb3 Nxb3 9. axb3 O-O 10. O-O Ng4 {Dies ist kein

Angriffszug (obwohl gelegentlich auch Dh4 folgen

könnte), sondern Schwarz stellt sich auf die zu

erwartende Öffnung der f-Linie ein; er will in diesem

Fall mit f7-f6 ein Bollwerk errichten. Jetzt sieht man

auch noch klarer, warum der Lc4 vorher getauscht werden

musste.} 11. h3 {Wenn Weiß dies nicht sofort spielt,

kommt Schwarz dem Weißen ggf. sogar mit f7-f5 in der

Öffnung der f-Linie zuvor.} Nh6 12. f4 exf4 13. Nxf4 f6

{Beide Seiten gehen plangemäß vor; Weiß hat allerdings

schöne Angriffschancen am Königsflügel.} 14. Qf3 Nf7

{Der Springer soll auf e5 einen viel versprechenden

Posten einnehmen.}
15. Rf2 {Trotz des Bauern auf f6 kann die

Turmverdoppelung auf der f-Linie später nützlich

werden, wie man gleich sehen wird.} Ne5 16. Qg3 c6

{Schwarz möchte auf das zu erwartende Sh5 De7 antworten

können und hält daher vorher den Sc3 von d5 ab.}17. Nh5

Qe7 18. Raf1 {Wegen der Fesselung in der g-Linie hängt

nun tatsächlich der scheinbar so stark befestigte Bauer

f6.} Kh8 {Noch kann sich Schwarz aber völlig zufrieden

stellend verteidigen. Wie verstärkt Weiß den Angriff?}

19. Nd1! {Die einzige weiße Figur, die momentan nicht

am Angriff teilnimmt, wird auf diese Weise auf die

Route e3-f5 geschickt. Aber führt dies nicht zu bloßem

Abtausch? Nun, Tartakower hat hier bereits richtig

erkannt, dass der Abtausch des schwarzen Läufers gegen

den Sf5 dem weißen Angriff nützen würde!} Bd7 20. Ne3

{Exaktes Timing. Schwarz kann nun den Sh5 nicht mehr

mit Le8 vertreiben, da der Läufer f5 beobachten muss.}

Rad8 21.
Nf5 Bxf5 22. exf5 {Diese Stellung hatte Tartakower vor

seinem geistigen Auge, als er 19. Sd1 zog. Die f-Linie

hat ihre Schuldigkeit getan; an ihre Stelle ist der

Bauer f5 getreten, der die schwarze Königsstellung

einengt und vor allem einen möglichen Stützpunkt für

einen weißen Springer e6 bietet. Es droht bereits Sf4,

wonach Se6 nicht mehr zu verhindern wäre.} 22... Qd7

{Nun ist Sf4 nicht möglich, weil Schwarz auf f5 nehmen

würde.} 23. Rf4 {Der Turm kann nun auf der 4. Reihe

aktiv werden, z.B. kann er gelegentlich nach h4

schwenken. Außerdem verhindert er ein eventuelles Dd4

von Schwarz.} Rfe8 {Schwarz hat absolut kein Gegenspiel

und kann nur abwarten, was Weiß zu tun gedenkt. Aber

seine Stellung ist immer noch sehr fest; vor allem der

Se5 steht gut.} 24. Kh1 {Weiß hat genügend Zeit zu

solchen Sicherungszügen. Irgendwelche späteren

Damenschachs auf d4 oder sogar Springerschachs auf f3

(man weiß ja nie?!) sind damit ausgeschaltet.} Re7
25. Re4 Rde8 26. Qh4 {Droht ein gelegentliches Opfer

auf f6.} Kg8 {Es ist in der Folge recht witzig zu

beobachten, wie der schwarze König zwischen h8 und g8

hin- und herschunkelt.} Qf2! {Mit diesem Angriff auf

den Bauern c5 gewinnt Weiß ein wichtiges Tempo zur

Deckung von f5. Damit entbindet er den Tf1 von dieser

Deckungsaufgabe und macht ihn damit frei, über e1 und

e3 nach g3 zu gelangen.} b6 28. Rfe1 Kh8 {Schwarz

'schunkelt' weiter. Er kann das weiße Turmmanöver nicht

verhindern.} 29. R1e3 Kg8 30. Rg3 {Nun steht der Turm

richtig. Es droht Sxf6+ mit 'Familiengabel'.} Kh8?

{Einmal zuviel geschunkelt! Tf8 war unbedingt nötig.

Danach wäre die schwarze Stellung zwar sehr unbequem,

ein direkter weißer Gewinn wäre aber noch nicht zu

sehen. Nach dem Textzug gewinnt Weiß forciert und

brillant.} 31. Rxg7!! {Zerschlägt die schwarze

Königsstellung völlig, und befreit den f-Bauern, der

sich schnell - im Verein mit einer Fesselung auf der

e-Linie - als die entscheidende Macht erweist.

Tartakower weist allerdings mit Nachdruck darauf hin,

dass er die Konsequenzen dieses Opfers vorher bis in

alle Einzelheiten ausrechnen musste.} Rxg7 32. Nxf6 Qe7

33. Nxe8 Qxe8 34. Qf4! {Am stärksten. Sofortiges f6

wäre weniger klar.} 34... Re7 {Erzwungen.} 35. f6 {Nun

steht Schwarz vor dem Aus. Auf Te6 käme nämlich 36.

Txe5!! Txe5 37. f7 Df8 38. Df6+ Dg7 39. f8=D#! Alles

forciert, wunderschön und lehrreich!} Ng6 {Auf den

relativ besten Zug Tf7 (Blockade des Freibauern) spielt

Weiß natürlich einfach Txe5 nebst Te6 und behält den

Monsterbauern gratis. Der Textzug ist ein letzter

Versuch, Verwirrung zu stiften; vielleicht hat Weiß ihn

ja nicht in seine Vorausberechnungen mit einbezogen?

Das hat er wahrscheinlich sogar tatsächlich nicht; aber

die Erfahrung zeigt immer wieder, dass sich solche

verzweifelten Spontanversuche fast immer leicht am

Brett widerlegen lassen.} 36. Rxe7! {Natürlich! Auf

Sxf5 käme jetzt Txe8#.} Nxe7 37. f7 {Und jetzt gewinnt

prinzipiell dieselbe Wendung wie in der zum 35. Zug

angegebenen Variante: Df8 38. Df6+ Dg7 39. f8=D+ Sg8

40. Dxg7#. Schwarz gab auf. Eine elegante Partie:

klassisches Schach im besten Sinne des Wortes.} 1-0
Error:
Expected "(", "*", "0-1", "0:1", "1-0", "1/2-1/2", "1:0", "{", [ \t\r\n], end of input or integer but "b" found.
klafel - 10. Jun '14
Eine großartige Partie. Ganz auf einmal dieses schöne Turmopfer auf g7.Der schwarze war wohl davon überzeugt Remis zu spielen und dann hat´s im der weiße gezeigt;)Finde die Partien die du reinstellst immer super, aber wo hast du die alle her?
Würde mich über jeden Tipp freuen:)

Gruß Felix
cutter - 10. Jun '14
Deine Reihe ist sehr schön und vielseitig. Toll!
Und immer wieder ein echtes Vergnügen....
VG cutter
Vabanque - 10. Jun '14
Tja, wo habe ich diese Partien alle her? Habe so einige hundert Schachbücher, und in einige davon schaue ich ab und zu auch mal rein ... habe im Laufe der Jahrzehnte eben auch viele Partien nachgespielt, und erinnere mich auch an einige davon ... ab und zu greife ich dann so eine Partie, die mir in besonderer Erinnerung ist, wieder mal auf und schaue sie mir genauer an. Dann macht es mir auch Spaß, Kommentare zu schreiben (unter Benutzung von Originalkommentaren aus den Büchern) ... und dann kommt eben so ein Beitrag raus :)

Hier, in dem speziellen Fall dieser Partie habe ich das Turnierbuch Moskau 1925 und Tartakowers erwähntes Werk 'Tartacover vous parle' herangezogen.
klafel - 10. Jun '14
Danke für diese Informationen. Ich habe jetzt eine Art Richtung wohin ich suchen kann.Freue mich über noch mehr patien von dir;)
Nilpferdchen - 11. Jun '14
Wirklich Klasse Vabanque!
Für mich eigentlich der einzige Grund, überhaupt in das Forum zu schauen! Tolle Partien bisher ... Weiter so !
Große Anerkennung! Musste ich mal loswerden ....
Nilpferdchen
CALIDA - 11. Jun '14
Ja Vabanque wieder eine tolle und unvergeßene Partie zweier GM.

Wieviele Stunden musste ein Tartakower in seiner Analyse darüber gebrütet haben, um so ein Turmopfer gewinnbringend und durchdacht für sich über die Ziellinie zu führen?

Zum größten Teil haben solche Partien auch heute (im Zeitalter modernster Computertechnik und deren Programme) vom Aufbau und Mittelspiel her noch
Bestand.
Vabanque - 11. Jun '14
Nun ja, Stunden wird er in einer Turnierpartie nicht über sein Turmopfer gebrütet haben ... das war ja keine chessmail-Partie :)
Außerdem glaube ich sicher, dass er das Turmopfer schon ein paar Züge früher beabsichtigt hatte ... mehr noch als das (sicherlich sehr schöne) Opfer selbst beeindrucken mich die vorbereitenden Manöver, mit denen er die Figuren so platziert hat, dass die Möglichkeit eines solchen Opfers überhaupt erst entstehen konnte.
Die größte Schwierigkeit finde ich in eigenen Partien immer, Stellungen, in denen sich solche Möglichkeiten ergeben können, überhaupt erstmal herbeizuführen.