Kommentierte Spiele

Bemerkenswerte Endspiele (III): Pillsbury-Gunsberg 1895

Vabanque - 04. Jun '16
Nach den beiden ziemlich aktuellen Beispielen nun eines, das schon vor weit über 100 Jahren gespielt wurde, und zwar von dem früh verstorbenen Amerikaner Harry Nelson Pillsbury (1872 - 1906), der übrigens auch ein genialer Blindsimultanspieler war. Die Partie wickelt nach ereignisloser Eröffnung sehr früh ins Endspiel ab, das ziemlich ausgeglichen scheint. Mit seinem 27. Zug leitet Pillsbury dann plötzlich eine Serie von Überraschungszügen ein (von denen jeder die Pointe des vorigen ist), gegen die Schwarz keine Verteidigung hat. Auch jeder heutige GM könnte auf dieses elegante Endspiel stolz sein!
(Es reicht übrigens, die Partie so etwa ab dem 24. Zug nachzuspielen, da verpasst man kaum etwas.)

Harry Nelson Pillsbury Isidor Gunsberg Hastings | Hastings ENG | 21 | 1895.09.02 | D10 | 1:0
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. d4 d5 2. c4 c6 3. e3 g6 4. Sc3 Lg7 5. Sf3 Sf6 6. Ld3 O-O 7. Se5 xc4 8. Lxc4 Sd5 9. f4 Le6 10. Db3 b5 Zwingt den Weißen zum sofortigen Abtausch, da nach einem Läuferrückzug Sxe3 folgen könnte. 11. Lxd5 Lxd5 12. Sxd5 Dxd5 13. Dxd5 xd5 Und schon hat die Stellung Endspielcharakter angenommen. Da zudem die c-Linie beidseits offen ist, darf man über kurz oder lang auch den Tausch beider Turmpaare erwarten, so dass ein reines Leichtfigurenendspiel entsteht. 14. Sd3 Pillsbury legt den Finger sofort auf die schwarze Wunde, nämlich das schwache Feld c5. Sd7 15. Ld2 Tfc8 16. Ke2 e6
Das Eindringen des schwarzen Turms nach c2 würde hier gar nichts bringen und auch bloß zum doppelten Turmtausch führen: Tc2 17. Thc1 b2 ist ja gedeckt Tac8 18. Txc2 Txc2 19. Tc1 Der Textzug soll den momentan inaktiven Lg7 über f8 wieder ins Spiel führen.
17. Thc1 Lf8 18. Txc8 Txc8 19. Tc1 Txc1 20. Lxc1 Ld6 21. Ld2 Kf8 22. Lb4 Der Punkt c5 wird jetzt systematisch belagert. Dies ist die einzige Chance von Weiß, etwas aus der Stellung herauszuholen. Ke7 23. Lc5 a6 Schwarz hätte wohl besser gleich auf c5 getauscht, wenn er dies überhaupt machen wollte. Nachdem der Läufer mit b4 befestigt ist, wird der Tausch deutlich ungünstiger. 24. b4 f6 25. g4 Lxc5 Ihm fällt nichts Besseres ein, aber es ist schwer, in solchen Stellungen still zu halten. Wem hier ein sinnvoller Plan für Schwarz einfällt, der möge sich durch lautes Schreien bemerkbar machen. 26. xc5 Sb8 Plausibel, um mit dem Springer auf c6 den Freibauern blockieren zu können. Kurioserweise gelingt es Weiß, dies zu verhindern und forciert zu gewinnen. Daher hätte Schwarz hier unbedingt a5 spielen müssen. 27. f5! Der erste einer ganzen Serie überraschender und feiner Züge, die in ihrer Summe die schwarze Stellung in Schutt und Asche legen. Weiß droht fxe6 Kxe6 Sf4, und Schwarz könnte den Bauern d5 nicht mehr decken, wodurch Weiß zwei verbundene Freibauern erhielte. g5
Da xf5 28. xf5 xf5 wegen 29. Sf4 ausscheidet, bleibt nur der Textzug, der den weißen Springer von f4 abhält.
Diesen Zug kann man auch nicht etwa nach xf5 28. xf5 g5 spielen, da dann 29. Sb4 den e-Bauern ebenfalls gewinnt.
28. Sb4 Auch jetzt kommt er von der anderen Seite. Der Zug sieht allerdings wegen der schwarzen Entgegnung wie ein gänzlich ungefährlicher Stänkerversuch aus. a5 Muss der Springer denn nicht sofort wieder gehen? 29. c6! Nein! Kd6
Nach xb4 30. c7 würde der Bauer sich verwandeln - ein bekanntes Motiv. Aber mit dem Textzug stoppt doch Schwarz nicht bloß den Bauern, er erobert ihn anscheinend sogar.
30. xe6! Immer noch darf Weiß seinen Springer hängen lassen. Sxc6
Denn xb4 scheitert diesmal an 31. e7! Kxe7 32. c7 Nach dem Textzug jedoch scheint jede Gefahr für Schwarz abgewendet, denn auf e7 könnte Schwarz ja mit dem Springer auf e7 schlagen.
31. Sxc6 Kxc6 Wie es aussieht, hat Weiß nun einfach einen Bauern verschussert, den Schwarz mit Kd6 nebst Kxe6 bequem abholen kann. 32. e4!! Der Schlüssel zu der ganzen mit 27. begonnenen Kombination! Schwarz wird den Bauern e6 nicht bekommen, dafür erhält Weiß zwei verbundene Freibauern. xe4
Kd6 33. xd5 ist noch schlechter, da Schwarz nicht auf d5 nehmen darf.
33. d5+! Kd6 Nimmt Schwarz, startet der weiße e-Bauer durch. 34. Ke3 b4 Die einzige Chance, selber noch mit einem Freibauern zu kontern. 35. Kxe4 a4 Nun droht Schwarz mit dem typischen Durchbruch a3 nebst b3, um den a-Bauern zu befreien. 36. Kd4 Weiß hält das gerade noch rechtzeitig auf. Auch dies musste bei 27. f5 bereits im Voraus berechnet werden! h5
Nachdem Weiß den schwarzen Damenflügel unter Kontrolle hat, versucht Schwarz mit diesem Zug einen Freibauern auf der f-Linie zu schaffen. Dieser Plan verliert aber schnell, da Weiß dadurch einen Freibauern auf der h-Linie erhält. Die spannendste Variante entstünde nach Ke7 37. Kc4 b3 38. xb3 a3 39. Kc3 erzwungen f5 um letztlich einen Freibauern auf der g-Linie zu schaffen 40. xf5 h5 41. b4 a2 42. Kb2 a1=Q+ um den weißen König auf die Grundlinie zu zwingen, damit der schwarze Freibauer mit Schach einziehen kann - eine gängie Technik, durch die Schwarz ein Tempo gewinnt. Weiß wird aber mit demselben Trick wieder die Nase vorn haben. 43. Kxa1 g4 44. b5 h4 45. b6 g3 46. xg3 xg3 47. d6+! Kxd6 48. b7 Kc7 49. e7 g2 50. b8=Q+ Kxb8 51. e8=Q+
37. xh5 a3 38. Kc4 Sonst folgt b3 mit schwarzem Gewinn. f5 39. h6 f4 Der kommt zu spät. Obwohl er mit Schachgebot einziehen würde, ist Weiß wie in der zum 36. Zug von Schwarz angeführten Variante um ein Tempo schneller. 40. h7 Schwarz gab auf. Pillsburys Endspielbehandlung war von allerhöchstem Rang - auch noch nach heutigen Maßstäben, 120 Jahre später!
PGN anzeigen[Event "Hastings"]
[Site "Hastings ENG"]
[Date "1895.09.02"]
[EventDate "1895.08.05"]
[Round "21"]
[Result "1-0"]
[White "Harry Nelson Pillsbury"]
[Black "Isidor Gunsberg"]
[ECO "D10"]
[WhiteElo "?"]
[BlackElo "?"]
[PlyCount "79"]

1. d4 d5 2. c4 c6 3. e3 g6 4. Nc3 Bg7 5. Nf3 Nf6 6. Bd3 O-O 7. Ne5 dxc4 8. Bxc4
Nd5 9. f4 Be6 10. Qb3 b5 {Zwingt den Weißen zum sofortigen Abtausch, da nach einem Läuferrückzug Sxe3 folgen könnte.} 11. Bxd5 Bxd5 12. Nxd5 Qxd5 13. Qxd5 cxd5 {Und schon hat die Stellung Endspielcharakter angenommen. Da zudem die c-Linie beidseits offen ist, darf man über kurz oder lang auch den Tausch beider Turmpaare erwarten, so dass ein reines Leichtfigurenendspiel entsteht.} 14. Nd3 {Pillsbury legt den Finger sofort auf die schwarze Wunde, nämlich das schwache Feld c5.} Nd7
15. Bd2 Rfc8 16. Ke2 e6 ({Das Eindringen des schwarzen Turms nach c2 würde hier gar nichts bringen und auch bloß zum doppelten Turmtausch führen:} 16... Rc2 17. Rhc1 {b2 ist ja gedeckt} Rac8 18. Rxc2 Rxc2 19. Rc1 {Der Textzug soll den momentan inaktiven Lg7 über f8 wieder ins Spiel führen.}) 17. Rhc1 Bf8 18. Rxc8 Rxc8 19. Rc1 Rxc1 20. Bxc1 Bd6
21. Bd2 Kf8 22. Bb4 {Der Punkt c5 wird jetzt systematisch belagert. Dies ist die einzige Chance von Weiß, etwas aus der Stellung herauszuholen.} Ke7 23. Bc5 a6 {Schwarz hätte wohl besser gleich auf c5 getauscht, wenn er dies überhaupt machen wollte. Nachdem der Läufer mit b4 befestigt ist, wird der Tausch deutlich ungünstiger.} 24. b4 f6 25. g4 Bxc5 {Ihm fällt nichts Besseres ein, aber es ist schwer, in solchen Stellungen still zu halten. Wem hier ein sinnvoller Plan für Schwarz einfällt, der möge sich durch lautes Schreien bemerkbar machen.} 26. bxc5 Nb8 {Plausibel, um mit dem Springer auf c6 den Freibauern blockieren zu können. Kurioserweise gelingt es Weiß, dies zu verhindern und forciert zu gewinnen. Daher hätte Schwarz hier unbedingt a5 spielen müssen.} 27. f5! {Der erste einer ganzen Serie überraschender und feiner Züge, die in ihrer Summe die schwarze Stellung in Schutt und Asche legen. Weiß droht fxe6 Kxe6 Sf4, und Schwarz könnte den Bauern d5 nicht mehr decken, wodurch Weiß zwei verbundene Freibauern erhielte.} g5 ({Da} 27... gxf5 28. gxf5 exf5 {wegen} 29. Nf4 {ausscheidet, bleibt nur der Textzug, der den weißen Springer von f4 abhält.}) ({Diesen Zug kann man auch nicht etwa nach} 27... exf5 28. gxf5 g5 {spielen, da dann} 29. Nb4 {den e-Bauern ebenfalls gewinnt.})
28. Nb4 {Auch jetzt kommt er von der anderen Seite. Der Zug sieht allerdings wegen der schwarzen Entgegnung wie ein gänzlich ungefährlicher Stänkerversuch aus.} a5 {Muss der Springer denn nicht sofort wieder gehen?} 29. c6! {Nein!} Kd6 ({Nach} 29... axb4 30. c7 {würde der Bauer sich verwandeln - ein bekanntes Motiv. Aber mit dem Textzug stoppt doch Schwarz nicht bloß den Bauern, er erobert ihn anscheinend sogar.}) 30. fxe6! {Immer noch darf Weiß seinen Springer hängen lassen.} Nxc6 ({Denn} 30... axb4 {scheitert diesmal an} 31. e7! Kxe7 32. c7 {Nach dem Textzug jedoch scheint jede Gefahr für Schwarz abgewendet, denn auf e7 könnte Schwarz ja mit dem Springer auf e7 schlagen.}) 31. Nxc6 Kxc6 {Wie es aussieht, hat Weiß nun einfach einen Bauern verschussert, den Schwarz mit Kd6 nebst Kxe6 bequem abholen kann.} 32. e4!! {Der Schlüssel zu der ganzen mit 27. begonnenen Kombination! Schwarz wird den Bauern e6 nicht bekommen, dafür erhält Weiß zwei verbundene Freibauern.} dxe4 (32... Kd6 33. exd5 {ist noch schlechter, da Schwarz nicht auf d5 nehmen darf.}) 33. d5+! Kd6 {Nimmt Schwarz, startet der weiße e-Bauer durch.} 34.
Ke3 b4 {Die einzige Chance, selber noch mit einem Freibauern zu kontern.} 35. Kxe4 a4 {Nun droht Schwarz mit dem typischen Durchbruch a3 nebst b3, um den a-Bauern zu befreien.} 36. Kd4 {Weiß hält das gerade noch rechtzeitig auf. Auch dies musste bei 27. f5 bereits im Voraus berechnet werden!} h5 ({Nachdem Weiß den schwarzen Damenflügel unter Kontrolle hat, versucht Schwarz mit diesem Zug einen Freibauern auf der f-Linie zu schaffen. Dieser Plan verliert aber schnell, da Weiß dadurch einen Freibauern auf der h-Linie erhält. Die spannendste Variante entstünde nach} 36... Ke7 37. Kc4 b3 38. axb3 a3 39. Kc3 {erzwungen} f5 {um letztlich einen Freibauern auf der g-Linie zu schaffen} 40.
gxf5 h5 41. b4 a2 42. Kb2 a1=Q+ {um den weißen König auf die Grundlinie zu zwingen, damit der schwarze Freibauer mit Schach einziehen kann - eine gängie Technik, durch die Schwarz ein Tempo gewinnt. Weiß wird aber mit demselben Trick wieder die Nase vorn haben.} 43. Kxa1 g4 44. b5 h4 45. b6 g3 46. hxg3 hxg3
47. d6+! Kxd6 48. b7 Kc7 49. e7 g2 50. b8=Q+ Kxb8 51. e8=Q+) 37. gxh5 a3 38. Kc4 {Sonst folgt b3 mit schwarzem Gewinn.}
f5 39. h6 f4 {Der kommt zu spät. Obwohl er mit Schachgebot einziehen würde, ist Weiß wie in der zum 36. Zug von Schwarz angeführten Variante um ein Tempo schneller.} 40. h7 {Schwarz gab auf. Pillsburys Endspielbehandlung war von allerhöchstem Rang - auch noch nach heutigen Maßstäben, 120 Jahre später!} 1-0
alms - 05. Jun '16
Großartige Partie!
Colorado77 - 05. Jun '16
Wirklich schöne Partie.

Gute Kommentierung, wenn ich mir dennoch erlauben darf:
23...a6 hat ein ? verdient, mMn ein richtiger Bock.

23...a5 ist augenscheinlich viel besser: xb4 wird weggenommen, gerade dieses Feld war ja der weisse Vorposten für den Springer.

Wenn Weiss nun schwarzes b4 verhindern will, muss er zu 24.a3 greifen.
Schwarz kann nun 24...f6 spielen, Idee späteres e5, um Bauern zu tauschen, und auf Remis zu vereinfachen. Hauptziel von f6 ist auch, Se5 zu verhindern.
Auf 25.b4 folgt 25...axb4 26.axb4 Sb8 (Man muss ja nicht auf c5 tauschen), Idee Sc6.
Die Stellung ist dann =.
Wenn Schwarz nicht auf c5 tauscht (Tauschen dort war ein praktischer Fehler in der Partie), taucht dort maximal ein weisser Springer auf, der alleine nicht viel ausrichten kann, auch Schwarz kann auf xc4 einen ebenso guten Gaul verewigen....
Vabanque - 05. Jun '16
Ja, stimmt natürlich, vor allem in der Rückschau, weil sich 24. b4 als so stark erwies.

Danke für die Analyse!
Kellerdrache - 06. Jun '16
Schönes Endspiel. Bei Pillsburys Ruf als Gedächtnisakrobat vergessen viele, dass er auch ganz passabel Schach spielen konnte ;-)).

Colorados Analyse stimmt, aber ich denke das tut der Leistung Pillsburys keinen Abbruch. Es ist ja nicht so als wenn die Stellung nach 23..a6 von jedem gewonnen würde.

Meine Erfahrungen im Bereich Bezirksliga und darunter (Nahschach) zeigen, dass sehr viele die ihre Eröffnungen im Schlaf kennen und ganz anständige Mittelspiele aufs Brett zaubern, im Endspiel katastrophal schlecht sind. Wir hatten einen älteren Herrn im Verein, der jahrelang gute Ergebnisse in der Bezirksliga erzielte indem er konsequent so schnell wie möglich ins Endspiel überging. Dort überspielte er dann die überforderte Gegnerschaft.

In diesem Sinne nicht nur unterhaltsame sondern auch ungemein lehrreiche Partie.