Kommentierte Spiele

Einzigartiger Schlusszug: Karjakin - Kosteniuk 2003

Vabanque - 20. Sep '14
Zum Zeitpunkt, als diese Partie gespielt wurde, war Sergej Karjakin gerade mal 13 Jahre alt, hatte aber bereits im Vorjahr (also im Alter von 12 Jahren) den GM-Titel erlangt; damit wurde er der bis dahin jüngste Großmeister der Schachgeschichte (ein Rekord, der meines Wissens auch bis heute noch nicht unterboten wurde).
Die Partie selber verläuft zunächst ziemlich unspektakulär: die Kontrahenten folgen einer bis zum 19. Zug ausanalysierten Variante im Sizilianer (gibt es in dieser Eröffnung überhaupt noch Varianten, die nicht ausanalysiert sind?), und auch danach gibt es zunächst keine weltbewegenden Geschehnisse in einer scheinbar ruhigen Position, bis Karjakin mit seinem 29. Zug das Spiel urplötzlich in taktisches Fahrwasser überführt, womit er auch prompt Erfolg hat. Eine Kombination, die scheinbar ein Loch hat, entpuppt sich als tief durchdachte Falle. Der Schlusszug der Partie ist absolut staunenswert und gehört für mich zu den schönsten Zügen,
die ich jemals gesehen habe. Allein schon aus diesem Grund finde ich es wert, die Partie hier vorzustellen.

Sergey Karjakin Alexandra Kosteniuk Dannemann Match | Brissago SUI | 4 | 2003.02.04 | B32 | 1:0
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. e4 c5 2. Sf3 Sc6 3. d4 xd4 4. Sxd4 e5 5. Sb5 d6 6. S1c3 a6 7. Sa3 b5 8. Sd5 Sce7 9. c4 Sxd5 10. xd5 xc4 11. Sxc4 Sf6 12. Le3 Tb8 13. Le2 Le7 14. a4 O-O 15. O-O Lb7 16. Sb6 Sd7 17. a5 f5 18. f3 Sxb6 19. Lxb6 Dd7 Wie ich in der Einleitung schon geschrieben habe, war zum Zeitpunkt der Partie alles Bisherige bereits Bestandteil der Theorie gewesen. Weiß hat eine Bauernmehrheit am Damenflügel, Schwarz dafür eine im Zentrum. Beide Bauernmehrheiten sind jedoch schwer zu mobilisieren. Dafür müsste Weiß den Bauern a6 oder Schwarz den Bauern d5 erobern. Bei beiderseits korrektem Spiel sollte dies beides nicht möglich sein, und keine Seite sollte einen nennenswerten Vorteil erlangen können. 20. b4 Ld8 21. Le3 Lf6 22. Tb1 Df7 23. Lc4 d5 musste natürlich gedeckt werden. Tfc8 24. Dd3 Weiß sichert den bedrohten Lc4 mit einem Zug, der gleichzeitig a6 angreift. Ta8 25. Tfc1 Dh5 26. Lb3 Lg5 27. Dd2 Lxe3+ 28. Dxe3 Df7 29. Db6! Der einzige Zug, der Weiß gewisse Aussichten verschafft, da er Schwarz zum genauen Spiel zwingt. Schwarz hätte jetzt den Bauern d6 mit De7! decken sollten. 29... Dd7? wäre zu diesem Zweck nicht geeignet gewesen wegen der eleganten Antwort 30. Tc6!, wonach Schwarz den Tc6 nicht nehmen dürfte (Abzugsschach mit Damengewinn wäre die fatale Folge) und daher den Bauern d6 einbüßen würde. Lxd5? Schwarz erkennt keine Gefahr und glaubt sich auf den Tausch des Bauern d5 gegen den Bauern a6 einlassen zu können, der nach 30. Txc8+ Txc8 31. Dxa6 entstünde. Weiß wäre dann aber auch mit seinen verbundenen Freibauern eindeutig im Vorteil. Aber der nächste Zug von Weiß muss ein regelrechter Schock für Kosteniuk gewesen sein. 30. Dxa6!!? Objektiv wohl schwächer als Txc8+ nebst Dxa6, enthält der Zug aber eine teuflische Falle. Txc1+?? Schwarz muss wohl an ein Versehen von Weiß geglaubt haben, andernfalls hätte sie sich darauf nicht eingelassen. Vermutlich glaubte Kosteniuk, die weiße Kombination durch ihren 32. Zug widerlegen zu können. Der richtige Zug wäre hier 30... Tcb8! gewesen, der noch alles offen gehalten hätte, auch wenn Weiß dann wohl die 'bessere' Bauernmehrheit gehabt hätte. 31. Txc1 Txa6 32. Tc8+ Natürlich wird es jetzt nach Df8 33. Lxd5+ im nächsten Zug matt. Aber Weiß musste die folgende nicht unbedingt direkt auf der Hand liegende Antwort von Schwarz einberechnen. De8! So etwas kann man in der Vorausberechnung leicht übersehen. Aber der junge Karjakin zeigt sogleich, dass er genau darauf die schönste Fortsetzung vorgesehen hat. Natürlich würde auf Lxd6+ Kf8 jetzt Schwarz gewinnen! 33. Txe8+ Kf7 Nun hängen beide weißen Figuren, und La4 wäre nur ein Notbehelf, der vermutlich keinen entscheidenden Vorteil ergäbe. 34. Ta8!! Ein richtiger Knaller, den Karjakin vermutlich schon bei 29. Db6 gesehen hatte. Der bedrohte Turm zieht mit Angriff auf den Ta6 weg, und auf einmal hängen bei Schwarz zwei Figuren. Der Ta8 ist indirekt geschützt: Vom gefesselten Ld5 kann der Ta8 nicht geschlagen werden, aber auf 34... Txa8 35. Lxd5+ nebst Lxa8 verbleibt Weiß mit einer Mehrfigur. Und auf 34... Lxb3 spielt Weiß einfach 35. Txa6 und behält eine Mehrqualität. Das geistreiche 34... Txa5 35. bxa5 Lxb3 ändert auch nichts, da der weiße a-Bauer dann schnell das Rennen macht. Schwarz gab daher auf.
PGN anzeigen[Event "Dannemann Match"]
[Site "Brissago SUI"]
[Date

"2003.02.04"]
[EventDate "2003.02.01"]
[Round "4"]
[Result

"1-0"]
[White "Sergey Karjakin"]
[Black "Alexandra

Kosteniuk"]
[ECO "B32"]
[WhiteElo "2547"]
[BlackElo

"2456"]
[PlyCount "67"]

1. e4 c5 2. Nf3 Nc6 3. d4 cxd4 4.

Nxd4 e5 5. Nb5 d6 6. N1c3 a6 7. Na3 b5 8. Nd5
Nce7 9. c4 Nxd5 10. exd5 bxc4 11. Nxc4 Nf6 12. Be3 Rb8

13. Be2 Be7 14. a4 O-O
15. O-O Bb7 16. Nb6 Nd7 17. a5 f5 18. f3 Nxb6 19. Bxb6

Qd7 {Wie ich in der Einleitung schon geschrieben habe,

war zum Zeitpunkt der Partie alles Bisherige bereits

Bestandteil der Theorie gewesen. Weiß hat eine

Bauernmehrheit am Damenflügel, Schwarz dafür eine im

Zentrum. Beide Bauernmehrheiten sind jedoch schwer zu

mobilisieren. Dafür müsste Weiß den Bauern a6 oder

Schwarz den Bauern d5 erobern. Bei beiderseits korrektem

Spiel sollte dies beides nicht möglich sein, und keine

Seite sollte einen nennenswerten Vorteil erlangen

können.} 20. b4 Bd8 21. Be3
Bf6 22. Rb1 Qf7 23. Bc4 {d5 musste natürlich gedeckt

werden.} Rfc8 24. Qd3 {Weiß sichert den bedrohten Lc4

mit einem Zug, der gleichzeitig a6 angreift.} Ra8 25.

Rfc1 Qh5 26. Bb3 Bg5 27. Qd2 Bxe3+
28. Qxe3 Qf7 29. Qb6! {Der einzige Zug, der Weiß gewisse

Aussichten verschafft, da er Schwarz zum genauen Spiel

zwingt. Schwarz hätte jetzt den Bauern d6 mit De7!

decken sollten. 29... Dd7? wäre zu diesem Zweck nicht

geeignet gewesen wegen der eleganten Antwort 30. Tc6!,

wonach Schwarz den Tc6 nicht nehmen dürfte (Abzugsschach

mit Damengewinn wäre die fatale Folge) und daher den

Bauern d6 einbüßen würde.} Bxd5? {Schwarz erkennt keine

Gefahr und glaubt sich auf den Tausch des Bauern d5

gegen den Bauern a6 einlassen zu können, der nach 30.

Txc8+ Txc8 31. Dxa6 entstünde. Weiß wäre dann aber auch

mit seinen verbundenen Freibauern eindeutig im Vorteil.

Aber der nächste Zug von Weiß muss ein regelrechter

Schock für Kosteniuk gewesen sein.} 30. Qxa6!!?

{Objektiv wohl schwächer als Txc8+ nebst Dxa6, enthält

der Zug aber eine teuflische Falle.} Rxc1+?? {Schwarz

muss wohl an ein Versehen von Weiß geglaubt haben,

andernfalls hätte sie sich darauf nicht eingelassen.

Vermutlich glaubte Kosteniuk, die weiße Kombination

durch ihren 32. Zug widerlegen zu können. Der richtige

Zug wäre hier 30... Tcb8! gewesen, der noch alles offen

gehalten hätte, auch wenn Weiß dann wohl die 'bessere'

Bauernmehrheit gehabt hätte.} 31. Rxc1 Rxa6 32. Rc8+

{Natürlich wird es jetzt nach Df8 33. Lxd5+ im nächsten

Zug matt. Aber Weiß musste die folgende nicht unbedingt

direkt auf der Hand liegende Antwort von Schwarz

einberechnen.} Qe8! {So etwas kann man in der

Vorausberechnung leicht übersehen. Aber der junge

Karjakin zeigt sogleich, dass er genau darauf die

schönste Fortsetzung vorgesehen hat. Natürlich würde auf

Lxd6+ Kf8 jetzt Schwarz gewinnen!} 33. Rxe8+
Kf7 {Nun hängen beide weißen Figuren, und La4 wäre nur

ein Notbehelf, der vermutlich keinen entscheidenden

Vorteil ergäbe.} 34. Ra8!! {Ein richtiger Knaller, den

Karjakin vermutlich schon bei 29. Db6 gesehen hatte. Der

bedrohte Turm zieht mit Angriff auf den Ta6 weg, und auf

einmal hängen bei Schwarz zwei Figuren. Der Ta8 ist

indirekt geschützt: Vom gefesselten Ld5 kann der Ta8

nicht geschlagen werden, aber auf 34... Txa8 35. Lxd5+

nebst Lxa8 verbleibt Weiß mit einer Mehrfigur. Und auf

34... Lxb3 spielt Weiß einfach 35. Txa6 und behält eine

Mehrqualität. Das geistreiche 34... Txa5 35. bxa5 Lxb3

ändert auch nichts, da der weiße a-Bauer dann schnell

das Rennen macht. Schwarz gab daher auf.} 1-0
Hasenrat - 20. Sep '14
Hat was von Jiu-Jitsu-Schach, solche Gegenschlag-Kombinationen: die Stoßkraft des Angreifers aufnehmen und geschmeidig gegen ihn selbst wenden.
Manchmal würde ich zu gern das Gesicht, das Mienenspiel dann zum Zug sehen, beim Betroffenen. Aber ich glaub, die sind auch Profis genug, um auch in solchen Momenten mit eingefrorenen Gesichtszügen dazusitzen.
cutter - 20. Sep '14
Ja, eine sehr ästhetische Stellung. So wenig Figuren, alle hängen und trotzdem ist Schwarz tot...