Kommentierte Spiele
Schottisches Abenteuer (III): Kasparov - Bacrot 2000
Vabanque - 02. Mai '17
Dieser Beitrag ist dadurch entstanden, dass SF Colorado77 zu der vorigen Folge schrieb, die Mieses-Variante spiele sich für Schwarz einfacher. Nun ja, vielleicht stimmt dies aber zumindest dann nicht, wenn der Weißspieler Kasparov heißt, selbst wenn der Gegner ebenfalls ein Super-GM ist. Kasparov beweist hier dem damals ganz jungen Bacrot (der aber auch schon seit 3 Jahren GM war), dass er nicht nur der Meister des agressiven Spiels und der sinnverwirrenden Komplikationen ist, als den man ihn kennt; nein, Kasparov beherrscht auch den klassischen Positionsstil perfekt. Hier spielt er Strangulierungsschach, wie man es von den großen Positionsspielern vor 100 Jahren: Tarrasch, Capablanca und Schlechter her kennt. Dem Gegner wird zuerst jegliche Bewegungsfreiheit genommen, er wird immer mehr eingeengt, bis schließlich die Durchbruchskombination wie ein Blitz einschlägt.
Ich muss gestehen, dass mir der 'übliche' Stil Kasparovs zwar besser zusagt, dass ich aber voller Bewunderung für so eine feine strategische Leistung wie diese hier bin. Hätte ich die Namen der Spieler nicht gewusst, ich hätte die Partie (einschließlich der Eröffnung!) nicht in die Gegenwart eingeordnet, sondern auf fast 100 Jahre älter geschätzt. Partien wie diese - wo eine Seite letztlich überhaupt kein Gegenspiel mehr hat - kommen in der modernen GM-Praxis nämlich sehr selten vor, was aber ihren ästhetischen und didaktischen Wert nicht mindert.































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Ich muss gestehen, dass mir der 'übliche' Stil Kasparovs zwar besser zusagt, dass ich aber voller Bewunderung für so eine feine strategische Leistung wie diese hier bin. Hätte ich die Namen der Spieler nicht gewusst, ich hätte die Partie (einschließlich der Eröffnung!) nicht in die Gegenwart eingeordnet, sondern auf fast 100 Jahre älter geschätzt. Partien wie diese - wo eine Seite letztlich überhaupt kein Gegenspiel mehr hat - kommen in der modernen GM-Praxis nämlich sehr selten vor, was aber ihren ästhetischen und didaktischen Wert nicht mindert.
Garry Kasparov Etienne Bacrot Sarajevo | Sarajevo BIH | 1 | 2000.05.17 | C45 | 1:0
8








7








6
5
4
3
2








a
1

b

c

d

e

f

g

h

1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. d4 xd4 4. Sxd4 Sf6 Die andere Hauptvariante in Schottisch neben 4... Lc5, was Short in der vorigen Folge spielte. 5. Sxc6 xc6 6. e5 Der Mieses-Angriff, der nicht etwa so heißt, weil er so mies wäre (höhö, mein schlechtester Kalauer seit langem!), sondern weil ihn der jüdisch-deutsch-britische GM Jacques Mieses in die Praxis eingeführt hat. 6. Sc3 ist dagegen sehr zahm wegen Lb4. De7 Fesselung und Gegenangriff auf e5. 7. De2 Deckung und Entfesselung. Sd5 8. c4 La6 Wieder eine Fesselung und lange Zeit der übliche Zug an dieser Stelle. Vorliegende Partie lässt einen allerdings zweifeln, ob nicht Sb6 der bessere Zug ist. 9. b3 Natürlich war hier nichts angegriffen, und deswegen muss auch nichts gedeckt werden. Aber Kasparov möchte beweisen, dass der La6 völlig sinnlos rumsteht, weil er auf Beton beißt. g6 In vorliegender Situation erscheint es sehr logisch, den Lf8, dem die De7 den Ausgang versperrt, nach g7 zu entwickeln. Aufgrund des nächsten weißen Zuges hat man später aber g5 versucht. Selbstverständlich kommt auch O-O-O in Frage. 10. f4 Auch der Lg7 soll nach seiner Entwicklung nach g7 auf Granit beißen. Beachtenswerterweise hat Weiß nun fast nur Bauernzüge gemacht und als einzige Figur die Dame entwickelt - genau wie ich es einst unseren Jugendlichen im Verein immer gesagt habe, dass man es keinesfalls machen darf! Aber natürlich muss sich ein Super-GM nicht an starre Regeln halten, weil er nämlich die tatsächlichen Erfordernisse der Stellung begreift. Und weil er sieht, dass die folgende aggressive Gebärde von Schwarz ins Leere läuft. Db4+
Schwarz möchte seinen Entwicklungsvorsprung durch dynamisches Spiel ausnutzen. Sb4 führt nach 11. a3 nirgends hin.
Besser sieht jedoch d6 aus.
11. Ld2 Db6 12. De4 Wehrt nicht bloß die schwarze Drohung ab, sondern droht selbst cxd5, da der Bauer nun entfesselt ist. f5 Gut pariert! 13. Df3 Dd4?! 14. Sc3 Nun kann Weiß die schwarzen Drohungen leicht abwehren, und am Ende kommt eine eingeschnürte Stellung von Schwarz heraus. Sxc3 15. Lxc3 Lb4 16. Tc1 Weiß hat keine Wahl, aber es klärt sich alles zu seinem Wohlgefallen. Lxc3+ 17. Txc3 O-O-O 18. c5! Ausgezeichnet gespielt! Schwarz bekommt sogar die Gelegenheit, seinen inaktiven Läufer zu tauschen, aber auch dieser Tausch hat für ihn keine Attraktivität. Lb7 Denn nach Lxf1 19. Txf1 könnte Weiß zwar nicht mehr rochieren, aber sein neu entwickelter Tf1 könnte über f2 und d2 gefährlich ins Spiel eingreifen. Zudem käme Schwarz nie zu d6. Dennoch ist der Textzug ein Eingeständnis, denn so wird der Läufer niemals mehr Wirkung entfalten. Die schwarze Strategie ist bereits gescheitert.
19. De3 Als Faustregel kann man sagen, dass sich positionelle Vorteile nach dem Damentausch meist vergrößern. Deshalb strebt Weiß diesen hier an. Dxe3+ 20. Txe3 d6 Der einzige Versuch, auch wenn er Weiß einen Freibauern verschafft. 21. Lc4 Schwarz darf sich gerne auf c5 bedienen; dies würde nur zu einem wertlosen Tripelbauern führen, und der weiße gedeckte Freibauer auf e5 wäre dann gänzlich unangefochten. Kd7 22. h4 Nun hängt der Vorstoß h4-h5 als Damoklesschwert über dem Haupt des Schwarzen. d5 Bacrot findet hier nichts anderes, als die Stellung komplett abzuschließen; zuerst im Zentrum, dann am Königsflügel. 23. Ld3 h5 Alles dicht?! 24. Tg3 Leider nein; zum Unglück für Schwarz hat Weiß noch nicht g2-g3 gezogen. Also kann der Turm auf der 3. Reihe noch schwarze Bauern angreifen, und wie wir sehen werden, kann hier nicht nur der Bauer g6, sondern später auch via a3 der a-Bauer behelligt werden. Zum Gewinn solcher Stellungen muss man bekanntermaßen auf zwei Schwächen spielen können (eine genügt nicht; eine kann meist genügend verteidigt werden), die sich idealerweise auch noch möglichst weit voneinander entfernt befinden. Dies ist hier gegeben. Th6 Auf Thg8 befürchtete Schwarz wohl 25. Tg5 Ke6 26. g4 xg4 27. h5 xh5 28. Lxf5+ mit zwei verbundenen Freibauern für Weiß (während die schwarzen Bauern schnell unschädlich gemacht werden können). Hier hätte also sogar das Spiel auf eine einzige Schwäche genügt; freilich bei unzureichender Verteidigung. Nach dem Textzug ist es bei weitem nicht so einfach für Kasparov. Obwohl ... für jemand wie ihn ist es das vielleicht schon.
25. b4! Ke6 26. Kd2 Kasparov zentralisiert seinen König und ermöglicht dem anderen Turm, ins Spiel zu kommen. Ta8 27. Tb1 a6 28. Tb3 Nun rückt also auch dieser Turm auf und wird gleich die erwähnte zweite Schwäche, den schwarzen a-Bauern, anvisieren. Ein weiterer Grund, warum Kasparov b4 (und tunlichst nicht a3!) gespielt hat. Kf7 29. Ta3 Thh8 Der schwarze König hat den Turm bei der Verteidigung von g6 abgelöst, aber viel hilft dies nicht, denn was will der Turm denn unternehmen? 30. Tg5 Th6 Schon fällt Bacrot nichts anderes ein, als wieder zurückzugehen. 31. Kc3 Erst wird der König zentralisiert. Tb8 32. Ta5 Auf a6 zuzugreifen, würde nach Ta8 den Läufer kosten! Jetzt dagegen droht es; und damit immobilisiert Kasparov seinen Gegner gänzlich. Dies allein freilich führt noch nicht zum Sieg; irgendwann muss die Stellung noch mit einem Durchbruch geöffnet werden. Dies wird in wenigen Zügen der Fall sein. Ta8 33. Kd4 Thh8 34. Lc2 Eigentlich unnötig. Entweder Kasparov wollte Zeit auf der Uhr gewinnen (wir nähern uns der Zeitkontrolle nach dem 40. Zug), oder er fand nicht sofort den richtigen Gewinnplan (unwahrscheinlich für ihn), oder (am wahrscheinlichsten) er wollte seinem Gegner beweisen, dass dieser so hilflos war, dass er - Kasparov - sich in dieser Stellung auch noch beliebiges Herumziehen leisten konnte. Tab8 35. Ld3 Ta8 36. Le2! Jetzt hat der Läufer das 'richtige' Feld erreicht. Thb8 37. Ta3! Der Turm wird zum Schlussmanöver nach g3 herübergespielt. Die Schwäche am Damenflügel hat ausgedient. Th8 38. Tag3 Tag8 Nun ist wieder scheinbar alles gedeckt; in Wirklichkeit ist die Stellung reif für die Schlusskombination. 39. Lxh5!!
Kellerdrache - 03. Mai '17
Deine Einleitung beschreibt die Partie wirklich schon perfekt. Ein oder zwei positionelle Ungenauigkeiten (8..La6 und 13...Dd4) reichen Kasparov um die vollständige Kontrolle über das Spiel zu übernehmen. So wie sich eine Boa Constrictor bei jedem Ausatmen enger und enger um einen legt und langsam die Luft aus dem Körper drückt so wird Bacrot hier chancenlos zusammengeschoben.
Die Schlußkombination ist zwar sehr schön, aber man hat den Eindruck die Partie wäre auch sonst für Weiß gewonnen gewesen.
Beieindruckend gespielt. Kein Wunder das Kasparovs Partien in dieser Zeit für eine, wenn auch kurze, Schottisch-Renaissance gesorgt haben.
Die Schlußkombination ist zwar sehr schön, aber man hat den Eindruck die Partie wäre auch sonst für Weiß gewonnen gewesen.
Beieindruckend gespielt. Kein Wunder das Kasparovs Partien in dieser Zeit für eine, wenn auch kurze, Schottisch-Renaissance gesorgt haben.
Colorado77 - 03. Mai '17
Schöne Partie! Ausführlich kommentiert!
Zur Eröffnung: Das hat der junge Bacrot - damals war die Variante noch recht neu - nicht optimal gespielt, man kann und muss auf den Be5 draufgehen, g6, Lg7 und dann Anknabbern mit d6 oder f6.
Was der grosse Vorteil von Sb6 gegenüber La6 ist: Gerade wenn Weiss b3 zieht, kommt oft der schwarze a-Bauer gerannt: a5-a4-axb3. Das ist ein schöner Plan.
Zudem ist immer die Frage, wo der Lc8 wirklich am besten steht. Oft geht er nach xb7, um dann nach schwarzem c5 die grosse Diagonale zu besetzen.
Zur Eröffnung: Das hat der junge Bacrot - damals war die Variante noch recht neu - nicht optimal gespielt, man kann und muss auf den Be5 draufgehen, g6, Lg7 und dann Anknabbern mit d6 oder f6.
Was der grosse Vorteil von Sb6 gegenüber La6 ist: Gerade wenn Weiss b3 zieht, kommt oft der schwarze a-Bauer gerannt: a5-a4-axb3. Das ist ein schöner Plan.
Zudem ist immer die Frage, wo der Lc8 wirklich am besten steht. Oft geht er nach xb7, um dann nach schwarzem c5 die grosse Diagonale zu besetzen.
Vabanque - 03. Mai '17
@Kellerdrache:
>>Die Schlußkombination ist zwar sehr schön, aber man hat den Eindruck die Partie wäre auch sonst für Weiß gewonnen gewesen.<<
Ich denke, dass statt Lxh5 auch e6 gewinnt, habe es aber nicht genau analysiert.
>>Kein Wunder das Kasparovs Partien in dieser Zeit für eine, wenn auch kurze, Schottisch-Renaissance gesorgt haben.<<
Klar, aber haben die Kasparov-Nachahmer damit so viel Erfolg gehabt wie er? Kaum. Während umgekehrt Kasparov auch mit einer anderen Eröffnung eine ähnlich beeindruckende Partie gespielt hätte.
Was heißen soll: Kasparovs Siege hängen nur sehr bedingt mit der gewählten Eröffnung zusammen.
@Colorado77:
>>Zur Eröffnung: Das hat der junge Bacrot - damals war die Variante noch recht neu - nicht optimal gespielt, man kann und muss auf den Be5 draufgehen, g6, Lg7 und dann Anknabbern mit d6 oder f6.<<
Er hat es versucht, aber zu spät.
>>Was der grosse Vorteil von Sb6 gegenüber La6 ist: Gerade wenn Weiss b3 zieht, kommt oft der schwarze a-Bauer gerannt: a5-a4-axb3. Das ist ein schöner Plan.
Zudem ist immer die Frage, wo der Lc8 wirklich am besten steht. Oft geht er nach xb7, um dann nach schwarzem c5 die grosse Diagonale zu besetzen.<<
Ich sehe, du kennst dich in Schottisch aus. Ich kenne die Theorie hier nicht, aber das klingt alles logisch.
Bacrot war mit einer recht unüblichen Eröffnung konfrontiert und spielte nach der 'alten' Theorie. Gegen einen weniger raffinierten Gegner hätte er damit wohl auch Ausgleich erreicht, denke ich.
>>Die Schlußkombination ist zwar sehr schön, aber man hat den Eindruck die Partie wäre auch sonst für Weiß gewonnen gewesen.<<
Ich denke, dass statt Lxh5 auch e6 gewinnt, habe es aber nicht genau analysiert.
>>Kein Wunder das Kasparovs Partien in dieser Zeit für eine, wenn auch kurze, Schottisch-Renaissance gesorgt haben.<<
Klar, aber haben die Kasparov-Nachahmer damit so viel Erfolg gehabt wie er? Kaum. Während umgekehrt Kasparov auch mit einer anderen Eröffnung eine ähnlich beeindruckende Partie gespielt hätte.
Was heißen soll: Kasparovs Siege hängen nur sehr bedingt mit der gewählten Eröffnung zusammen.
@Colorado77:
>>Zur Eröffnung: Das hat der junge Bacrot - damals war die Variante noch recht neu - nicht optimal gespielt, man kann und muss auf den Be5 draufgehen, g6, Lg7 und dann Anknabbern mit d6 oder f6.<<
Er hat es versucht, aber zu spät.
>>Was der grosse Vorteil von Sb6 gegenüber La6 ist: Gerade wenn Weiss b3 zieht, kommt oft der schwarze a-Bauer gerannt: a5-a4-axb3. Das ist ein schöner Plan.
Zudem ist immer die Frage, wo der Lc8 wirklich am besten steht. Oft geht er nach xb7, um dann nach schwarzem c5 die grosse Diagonale zu besetzen.<<
Ich sehe, du kennst dich in Schottisch aus. Ich kenne die Theorie hier nicht, aber das klingt alles logisch.
Bacrot war mit einer recht unüblichen Eröffnung konfrontiert und spielte nach der 'alten' Theorie. Gegen einen weniger raffinierten Gegner hätte er damit wohl auch Ausgleich erreicht, denke ich.
Kellerdrache - 04. Mai '17
Ja, auch Großmeister haben ihre Schwachpunkte in der Eröffnung. Nicht so wie wir, die wir bestimmte Sachen gar nicht kennen und man kann sie auch nicht mit irgendeiner plumpen Eröffnungsfalle über Ohr hauen.
Aber natürlich beschäftigen sie sich in ihrem Training jetzt mehr mit Spanisch als mit Königsgambit oder Schottisch. Zwar darf man davon ausgehen, dass sie die herkömmliche Theorie auch hierzu kennen, aber vermutlich haben sie sich nicht lange genug damit beschäftigt um eigene Ideen und Pläne zu entwickeln. So ist es hier mit Bacrot. Er hat sich irgendwann mal die damalige Theorie eingetrichtert aber nie groß auf Herz und Nieren geprüft.
Aber natürlich beschäftigen sie sich in ihrem Training jetzt mehr mit Spanisch als mit Königsgambit oder Schottisch. Zwar darf man davon ausgehen, dass sie die herkömmliche Theorie auch hierzu kennen, aber vermutlich haben sie sich nicht lange genug damit beschäftigt um eigene Ideen und Pläne zu entwickeln. So ist es hier mit Bacrot. Er hat sich irgendwann mal die damalige Theorie eingetrichtert aber nie groß auf Herz und Nieren geprüft.