Kommentierte Spiele

Carlsens Meisterwerke (I): Carlsen - Ponomariov 2009

Vabanque - 03. Apr '16
Die folgende Partie macht auf mich den Eindruck großer Leichtigkeit und erinnert damit an die besten Leistungen Capablancas. Ein kleiner dunkler Punkt, der sich im 22. Zug zeigt, wo beide Spieler nicht das Stärkste treffen, wertet für mich die Partie keineswegs ab, sondern zeigt lediglich auf, dass auch heutige Spieler immer noch 'menschliches' Schach und nicht, wie ihnen - insbesondere Carlsen - oft vorgeworfen wird, Maschinen-Schach spielen. (Ein Vorwurf, der übrigens seinerzeit auch schon Capablanca traf.)

Magnus Carlsen Ruslan Ponomariov Tal Memorial | Moscow RUS | 8 | 2009.11.13 | B90 | 1:0
8
7
6
5
4
3
2
a
1
b
c
d
e
f
g
h
1. e4 c5 2. Sf3 d6 3. d4 xd4 4. Sxd4 Sf6 5. Sc3 a6 6. Le3 e6 7. f3 b5 8. Dd2 Sbd7 9. g4 Wie ich schon neulich im Kommentar zu einer anderen Partie schrieb, es gibt heute wohl kein Sizilianisch mehr, wo nicht irgendwann g4 kommt. So hat sich Schach in den letzten 100 Jahren halt doch gewandelt. Denn dazumal bezeichnete Tarrasch g2-g4 ja noch generell als den Harakiri-Zug, da er angeblich nur den K-Flügel schwächt, ohne etwas zur Entwicklung beizutragen. Aber hier wird Weiß ohnehin lang rochieren, und nimmt dem Schwarzen schon mal die Lust an der kurzen Rochade (wobei die lange für Schwarz auch keine Alternative ist, ebensowenig wie den König in der Mitte stehen zu lasssen. h6 Schafft zwar eine Angriffsmarke für die spätere Linienöffnung, aber g4-g5 kann man hier auch nicht gut direkt zulassen. 10. O-O-O Se5 Ähnlich wie in der Partie Anand-Kempinski kommt es auch hier nie mehr zur Entwicklung des Lc8, die Schwarz hier unterlässt. Lb7 sieht doch ganz natürlich aus. 11. De1 Dc7 12. h4 b4 13. Sce2 Sc4 Jetzt aber scheint Schwarz doch schon die Initiative übernommen zu haben. d5 war hier aber auch eine Überlegung wert. 14. Sf4! Ja, provoziert das denn nicht direkt die Gabel e6-e5? Sxe3
e5 wäre doch recht riskant wegen 15. Sd5 Sxd5 16. xd5 xd4 17. Lxd4+ Le7 18. Lxg7 Tg8 19. Lxh6 , und Weiß hat nicht bloß sowieso schon 3 Bauern für die Figur, sondern auch noch Angriff gegen den in der Mitte stehenden schwarzen König und einen Freibauern auf der h-Linie.
15. Dxe3 Db6
Jetzt wäre nach e5 16. Sd5 Sxd5 17. xd5 für Schwarz sowieso keine Figur mehr zu gewinnen, da der e-Bauer nun gefesselt ist. Auf 15... Lb7 befürchtete Schwarz nun wahrscheinlich zu Recht das Springeropfer auf e6 (das mit dem Textzug verhindert wird), aber Le7 war möglich.
16. Lc4 Dc5
Diese Dame fährt ein bisschen viel in der Gegend herum, aber es ist nicht einfach, hier einen besseren Zug anzugeben. Immerhin greift der Zug ja den Lc4 an. e5 war wieder nicht gut, aber diesmal wegen 17. Lxf7+ Kxf7 18. Db3+ Ke8 19. Sg6
17. Db3 d5?! Eine interessante, wenn auch letztlich verfehlte Idee, Gegenspiel zu erlangen. 18. xd5 Ld6 Das war es. Dieser Läufer wird aktiviert, indem er den Sf4 mit Schach bedroht. 19. Sxe6! Natürlich! Weiß erhält 3 Bauern für die Figur und eine schöne Angriffsstellung. Vor allem der entstehende Freibauer auf e6 stört das schwarze Spiel. xe6 20. xe6 Nun droht Sf5 und 20... O-O 21. e7+ wäre indiskutabel. Le7 Blockiert den Freibauern. 21. Dd3 Droht Dg6+ O-O 22. Lb3 Weiß möchte trotzdem gerne Dg6 spielen und befreit daher den Läufer von der Deckung der Dame. Eigentlich ein typischer Carlsen- Vorbereitungszug. Hinterher fand man - natürlich nur mit Hilfe von Engine-Analysen - heraus, dass hier das Bauernopfer 22. g5! stärker gewesen wäre. Auch Sf5 kam in Betracht. Td8? Danach ist Schwarz mit Sicherheit verloren. Wahrscheinlich wollte er mit diesem Zug Dg6 verhindern (da dann der Sd4 hängt), aber Weiß dringt auf andere Weise durch. Engine-Analysen ergeben, dass Schwarz hier mit Lb7! genügend Gegenspiel hätte erlangen können, um die Partie zu halten. Die Computer-Varianten basieren aber auf Möglichkeiten, die ein menschlicher GM am Brett kaum hätte finden können. Deswegen ist Pono hier ebenso wenig ein echter Vorwurf zu machen wie Magnus, dass er nicht 22. g5 gespielt hat. 23. g5 Sh7
Und nun käme auf xg5 am stärksten zuerst 24. Dg6! mit den Drohungen Df7+ nebst hxg5+, oder gleich hxg5, oder auch Sf5, z.B. Txd4 25. Df7+ Kh8 26. xg5+ Sh7 27. Txh7+ Kxh7 28. Th1+ nebst Matt.
24. xh6 Aber auch so kann Schwarz der entscheidenden Linienöffnung nicht entgehen. Dh5 25. De4 Mit Tempo (Angriff auf den Ta8, weil der Lc8 noch immer unentwickelt ist) hebt die Dame die Fesselung auf und ermöglicht Sf5. Dxh6+ Dass dieser Bauer mit Schach fällt, ändert nichts. 26. Kb1 Ta7 27. Sf5 Txd1+
Unbedingt nötig, da auf sofortiges Df6 28. Txd8+ Lf8 29. e7+ alles sofort beendet. Die Blockade des Bauern e6 darf nicht aufgehoben werden.
28. Txd1 Df6 29. Td7! Alle Versuche von Schwarz waren nutzlos; dieser elegante Zug bricht die Blockade trotzdem. Lxd7 30. xd7+ Kf8 Auch auf Kh8 ginge Dd5. 31. Dd5 Und das Matt auf g8 ist unabwendbar. Schwarz gab auf. Eine sehr abgerundete ästhetische Leistung Carlsens.
PGN anzeigen[Event "Tal Memorial"]
[Site "Moscow RUS"]
[Date "2009.11.13"]
[EventDate "?"]
[Round "8"]
[Result "1-0"]
[White "Magnus Carlsen"]
[Black "Ruslan Ponomariov"]
[ECO "B90"]
[WhiteElo "?"]
[BlackElo "?"]
[PlyCount "61"]

1.e4 c5 2.Nf3 d6 3.d4 cxd4 4.Nxd4 Nf6 5.Nc3 a6 6.Be3 e6 7.f3
b5 8.Qd2 Nbd7 9.g4 {Wie ich schon neulich im Kommentar zu einer anderen Partie schrieb, es gibt heute wohl

kein Sizilianisch mehr, wo nicht irgendwann g4 kommt. So hat sich Schach in den letzten 100 Jahren halt doch gewandelt. Denn dazumal bezeichnete Tarrasch g2-g4 ja noch

generell als den Harakiri-Zug, da er angeblich nur den K-Flügel schwächt, ohne etwas zur Entwicklung beizutragen. Aber hier wird Weiß ohnehin lang rochieren, und nimmt

dem Schwarzen schon mal die Lust an der kurzen Rochade (wobei die lange für Schwarz auch keine Alternative ist, ebensowenig wie den König in der Mitte stehen zu

lasssen.} h6 {Schafft zwar eine Angriffsmarke für die spätere Linienöffnung, aber g4-g5 kann man hier auch nicht gut direkt zulassen.} 10.O-O-O Ne5 {Ähnlich wie in der

Partie Anand-Kempinski kommt es auch hier nie mehr zur Entwicklung des Lc8, die Schwarz hier unterlässt. Lb7 sieht doch ganz natürlich aus.} 11.Qe1 Qc7 12.h4 b4

13.Nce2
Nc4 {Jetzt aber scheint Schwarz doch schon die Initiative übernommen zu haben. d5 war hier aber auch eine Überlegung wert.} 14.Nf4! {Ja, provoziert das denn

nicht direkt die Gabel e6-e5?} Nxe3 (e5 {wäre doch recht riskant wegen} 15. Nd5 Nxd5 16. exd5 exd4 17. Bxd4+ Be7 18. Bxg7 Rg8 19. Bxh6 {, und Weiß hat nicht bloß

sowieso schon 3 Bauern für die Figur, sondern auch noch Angriff gegen den in der Mitte stehenden schwarzen König und einen Freibauern auf der h-Linie.}) 15.Qxe3 Qb6

({Jetzt wäre nach} e5 16. Nd5 Nxd5 17. exd5 {für Schwarz sowieso keine Figur mehr zu gewinnen, da der e-Bauer nun gefesselt ist. Auf 15... Lb7 befürchtete Schwarz nun

wahrscheinlich zu Recht das Springeropfer auf e6 (das mit dem Textzug verhindert wird), aber Le7 war möglich.}) 16.Bc4 Qc5 ({Diese Dame fährt ein bisschen viel in der

Gegend herum, aber es ist nicht einfach, hier einen besseren Zug anzugeben. Immerhin greift der Zug ja den Lc4 an.} e5 {war wieder nicht gut, aber diesmal wegen} 17.

Bxf7+ Kxf7 18. Qb3+ Ke8 19. Ng6) 17.Qb3 d5?! {Eine interessante, wenn auch letztlich verfehlte Idee, Gegenspiel zu erlangen.} 18.exd5 Bd6
{Das war es. Dieser Läufer

wird aktiviert, indem er den Sf4 mit Schach bedroht.} 19.Nfxe6! {Natürlich! Weiß erhält 3 Bauern für die Figur und eine schöne Angriffsstellung. Vor allem der

entstehende Freibauer auf e6 stört das schwarze Spiel.} fxe6 20.dxe6 {Nun droht Sf5 und 20... 0-0 21. e7+ wäre indiskutabel.} Be7 {Blockiert den Freibauern.} 21.Qd3

{Droht Dg6+} O-O 22.Bb3 {Weiß möchte trotzdem gerne Dg6 spielen und befreit daher den Läufer von der Deckung der Dame. Eigentlich ein typischer Carlsen-

Vorbereitungszug. Hinterher fand man - natürlich nur mit Hilfe von Engine-Analysen - heraus, dass hier das Bauernopfer 22. g5! stärker gewesen wäre. Auch Sf5 kam in

Betracht.} Rd8? {Danach ist Schwarz mit Sicherheit verloren. Wahrscheinlich wollte er mit diesem Zug Dg6 verhindern (da dann der Sd4 hängt), aber Weiß dringt auf

andere Weise durch. Engine-Analysen ergeben, dass Schwarz hier mit Lb7! genügend Gegenspiel hätte erlangen können, um die Partie zu halten. Die Computer-Varianten

basieren aber auf Möglichkeiten, die ein menschlicher GM am Brett kaum hätte finden können. Deswegen ist Pono hier ebenso wenig ein echter Vorwurf zu machen wie

Magnus, dass er nicht 22. g5 gespielt hat.} 23.g5 Nh7 ({Und nun käme auf} hxg5 {am stärksten zuerst} 24. Qg6! {mit den Drohungen Df7+ nebst hxg5+, oder gleich hxg5,

oder auch Sf5, z.B.} Rxd4 25. Qf7+ Kh8 26. hxg5+ Nh7 27. Rxh7+ Kxh7 28. Rh1+ {nebst Matt.}) 24.gxh6 {Aber auch so kann Schwarz der entscheidenden Linienöffnung nicht

entgehen.} Qh5 25.Qe4 {Mit Tempo (Angriff auf den Ta8, weil der Lc8 noch immer unentwickelt ist) hebt die Dame die Fesselung auf und ermöglicht Sf5.} Qxh6+ {Dass

dieser Bauer mit Schach fällt, ändert nichts.} 26.Kb1 Ra7 27.Nf5 Rxd1+ ({Unbedingt nötig, da auf sofortiges} Qf6 28. Rxd8+ Bxf8 29. e7+ {alles sofort beendet. Die

Blockade des Bauern e6 darf nicht aufgehoben werden.})28.Rxd1 Qf6
29.Rd7! {Alle Versuche von Schwarz waren nutzlos; dieser elegante Zug bricht die Blockade trotzdem.}

Bxd7 30.exd7+ Kf8 {Auch auf Kh8 ginge Dd5.}31.Qd5 {Und das Matt auf g8 ist unabwendbar. Schwarz gab auf. Eine sehr abgerundete ästhetische Leistung Carlsens.} 1-0
Kellerdrache - 03. Apr '16
Manchmal kann Schach sehr einfach aussehen, so wie hier. Wäre diese Partie der Maßstab für einen Sizilianer würde das vermutlich niemand mehr spielen. So wenig Gegenspiel des Unterlegenen gibt es bei Großmeistern selten.
Ponomarov macht ein paar strategische Fehler wie 10...Se5 und 17...d5 was gegen einen Carlsen in so einer Stellung schon tödlich ist.
Wer meint das wäre doch alles sehr einfach gewesen kann ja mal versuchen denselben Aufbau in einer seiner Partien zu spielen. Er wird sich wundern wie schnell er den Faden verliert wenn der Gegner irgendwo abweicht.
Vabanque - 04. Apr '16
Normalerweise bevorzuge ich ja wirklich die Spieler mit einem komplizierten Stil, wie etwa Tal, Bronstein, Shirov, Aronian, Polgar, Morozevich.
Aber auf der anderen Seite üben Partien wie obige, in denen alles so einfach scheint und sich so wunderbar elegant zusammenfügt, auf mich auch einen unwiderstehlichen Reiz aus.
Du hast Recht, man meint irgendwie, das müsste man doch auch so hinkriegen, und weiß gleichzeitig, dass es unmöglich ist, dass nämlich in der scheinbaren Einfachheit die allerhöchste Schachkunst liegt.